Gedanken

| Lesealter: ab 12 Jahre |

… Hmwas?

Oh!

Verzeihung, ich war in Gedanken. Malhiermalda. Nein, nicht in meinen eigenen, sondern in den Gedanken von jemand anderen. Also ich habe mir das nur so vorgestellt. Niemand bestimmtes, eigentlich eine Mischung aus meiner alten Klassenlehrerin Frau Thiem, einem Förster, der jetzt Witze für eine Comedysendung schreibt, und einer Gruppe von Straßenmusikanten in Dreischlüpfersruh (samt Publikum). Und dann eben, was so einer Person durch den Kopf gehen mag: – Erinnerungen: die Stelle (Zeit und Ort), wo ein Kuss von Franzi Wühltischmaus abgespeichert wurde, der irgendwie wichtig war; Ecke auf dem See, wo sich die Linden- und Birkenblüten sammeln, ablandig; der anerkennende Händedruck von Chormeister Hildebrandt, Tondetektiv im Stimmenwald; – Wissen: eins plus eins gleich uneins; Isfahan, goldene Stadt im Orient, trägt den Spitznamen ›Hälfte der Welt‹, nur was bleibt dann für die andere Hälfte; Halbwissen; – Empfindungen: schmelzende Schokolade im Mund, wie beim ersten Mal; Pfefferminzatem; Deo auf Schweiß, geht nicht anders, muss sein, wäre ja …; der Blick eines stillen Beobachters, und was auf dem Blick in dein Herz reitet; Weinnote in einem Bett von Harz und Muskat; – Wertungen: kann ja wohl kein Umstand sein, kurz unter die Dusche, hat man so was schon …; verdammte Spatzen! mitten auf, gerade aus dem Friseur, das haben die doch mit Absicht!; so wie der Nachbar mit dem Hund keift, keift er bestimmt auch mit seinen Kindern, wie du das wohl findest; und dann noch Moritz, neidtriefend, immer wieder Moritz, glupschäugig über deiner Fußballkartensammlung, die Zunge hängt ihm 27 Zentimeter aus dem Hals, dass man ihn damit an einem Kuhzaun anknoten sollte, 27 Volt alle 27 Sekunden, bis man Glühlampendraht draus machen kann und damit basta!
Also ich würd‘ mich ja bedanken, wenn einer von mir denkt, dass ich sonstwas denke. Aber, sehr wahrscheinlich, sind alle Gedanken, die ich mir für Andere ausdenke, ob Frau Thiem, Moritz oder Sabine Mustermann, ohnehin nur meine eigenen Gedanken. Wie’s kommt und wie’s dem Herrn gefällt. Kann man sich jedenfalls Gedanken drüber machen. Wie ist das, in den Gedanken von jemandem zu sein, zu stöbern, zu graben, freizulegen, Feuer zu legen? Wie ist das, in Gedanken zu sein? Gibt immerhin Gedanken, für die man sich schämt oder die nicht schön sind: Sind diebische Gelegenheiten, geschwärzte Zeiten, von Sekunde zu Sekunde oder von Woche zu Woche, da umwölken Gewitterstürme und trübe Nebel unseren Kopf. Auf der anderen Seite scheinen uns manchmal Sonnenaufgänge ins Gemüt, umtanzt von Glühwürmchen und Wunderkerzen: Dann möchten wir unsere Gedanken teilen, mit einer wichtigen Person, und hinterher vielleicht die Welt umarmen. Wir stahlen wie ein Hochdruckgebiet, das die Wetterfee nicht besser ansagen könnte. 27 Grad, abends ein frischer Schauer, fürs Grün in den Pflanzen und das Klima im Kopf und so.
So oder so, unsere Gedanken sind unser Innerstes, unser Wesen. Jener Teil unserer Seele, den wir anschauen und beobachten können. Wir sollten selbst bestimmen, wann wir wem wie viel davon preisgeben. Andererseits ist’s interessant und macht sehr viel Spaß, sich über Gedanken auszutauschen. Oder zu sehen, was mit Gedanken passiert, wenn du ihnen Worte gibst, sie ›formulierst‹. Die schönsten Gespräche und die besten Freunde sind, die deinen Gedanken eine Wendung geben oder etwas hinzufügen können, auf das du nie im Leben gekommen wärst. Verstanden werden und verstehen. Dazu muss man tief ins Innere eintauchen, forschen und offenbaren.
Aber wirklich in den Gedanken eines Anderen zu sein? »Geht doch gar nicht«, behauptet Försterfrau Thiem aus Dreischlüpfrsruh von oben eben, behauptest du.
Nicht? Ist denn dein Bruder nicht in deinen Gedanken, wenn du ihn vermisst? Bin ich es nicht gerade jetzt? Und wie ist das mit völlig Fremden? Bist Du, ein Leser, ein Zuhörer, eine Leinwand in diesem Fall, bist du in meinen Gedanken, weil ich überlege, wie ich eben diese dir zurechtlege, zurechtmale und zurechtzeige?

Ich gebe es zu, ich bin gern in den Gedanken Anderer unterwegs: Ich in einem anderen Kopf, Kopfgeburt, der andere Kopf als Hebamme. Die, die den Kindern unsres Bewusstseins zum Leben verhelfen. Bühnenbretter vor dem Kopf, die dem inneren Theater die Welt bedeuten. Und: es gibt ja auch Ideen, auf die kommt man, da kommt man gar nicht so drauf. Gut, für so was mal in einen fremden Kopf reinzugucken. Man kriegt andere innere Augen auf diese Weise. Allerdings weiß ich nicht genau, ob es überhaupt erlaubt ist oder jugendfrei, in jemandes Gedanken zu sein. Wobei, das wäre ja ein starkes Stück! – Bestimmt gibt es irgendwo ein Gesetz, dass es Spionen, Schamanen und Eltern verbietet, in die Gedanken anderer Leute einzudringen. Aber, keine Ahnung ob das hierher, aber irgendwo muss es ja, muss man doch unterscheiden, sind das Eintauchen in Gedanken (manchmal will ich mit meinen Gedanken nicht alleine sein) und das Manipulieren oder Bearbeiten von Gedanken schließlich zwei verschiedene Paar Socken: Denk nicht so! Was hast du nur für eine falsche Vorstellung! Völlig unverständlich, mach dir lieber Gedanken, wie du das mit deinem Gewissen … Ausmachen! Alles nur Theater wieder, und keiner, der weiß, wo die Grenze ist, wo die Bühne anfängt oder aufhört. Natürlich kann man die Gedanken eines Anderen in eine bestimmte Richtung lenken. Im besten Fall nennt man das ›Überzeugung‹ oder eben ›Erziehung‹. Du kachelst zum Beispiel mit deinem Rad einen Gedankenberg runter, dass dir die Ohren wie einem Dackel im Wind schlackern und denkst nicht ans Bremsen. Ich, zum Beispiel, bin diesen Gedankenberg schon mal runter gekachelt und habe die Erfahrung gemacht, dass Bremsen überaus nützlich sein kann. Weil unten ein Tümpel voller Piranhas und Krokodile wartet. Also versuche ich deine Fahrt zu lenken und dich davon zu überzeugen, dir nicht von den Krokodilen die Beine kürzen zu lassen … Aber ob das was nützt? Und wenn ich versuchte, dir gleich den ganzen Gedankenberg auszureden? … Manche Gesetze stehen wohl nicht auf dem Papier, weil die Grenzen, die sie fassen wollen, ein Gezeitenufer, ein unfassbares Auf- und Ablaufen von Ebbe und Flut sind.
Und wenn man nur in Gedanken in die Gedanken eines Anderen eintaucht? Wie ist das dann? Kann man sich in einem fremden Kopf zurecht finden? Ob das verständlich sein kann und überhaupt etwas bringt? Den Gedanken folgen, Gedankenschritte verstehen, Sinn entschlüsseln, eine Schatztruhe voller Schlüssel für weitere Truhen voller weiterer Geheimnisse, voller Weite und Enge? Und ist das ›kindgerecht‹? Weißt du, was ein Schamane ist? Kannst du dir vorstellen, wie ein 27 Grad warmer Gedankenberg kurz vorm Gewitterschauer aussieht? Kannst du verstehen, warum meine alte Grundschullehrerin – schlüsselbundwerfend, in Strenge getrockneter Mund – mir über die Jahre des Erinnerns nicht und niemals lieb aber dennoch so vertraut geworden ist, dass ich sie heute duzen würde? Man könnte, man sollte, das willst du zu verstehen geben: Alles verstehen, das muss man ja nicht. Klar, da haben auch Erwachsene so ihre Probleme. Mit den eigenen Gedanken, Herr Hannes Meister, versteinert im Ringen mit dem, was einst aus ihm werden sollte und was nun aus ihm geworden ist, stets mit erhobenem Zeigefinger, statuenhaft im Kontrapost, eine Patina aus Unzufriedenheit, im Innern Fossil, große Zukunft hinter sich. Tante Sabine, naserümpfend, ein hohles Lachen zur leeren Zimmerdecke, wenn im Fernsehen jemand vorbeiflimmert, der glücklicher als sie scheint. Krault ihrem Pudel den Nacken und wünscht sich, Töchterlein möge öfter zu Besuch kommen und ihr die ältliche Seele kraulen. Versteht nicht, warum Töchterlein steif sich als Kleine nie richtig herzen und knuddeln ließ. Wie ein Stock das hübsche Ding …
Nein, oft verstehen wir nicht ganz. Aber ein bisschen. Wichtig ist, was wir draus machen, wenn wir den Krokodiltümpel am Fuß des Berges sehen. Wichtig, was die eigenen Gedanken bewegt, dass wir die Freiheit nutzen, uns (im Geiste) bewegen und unser Innerstes offen halten für das, was, für alles da. Sind doch keine Heimchen, die immer an der selben Stelle hocken, ins Dunkel unter die Gartenbank geduckt, und immer den selben Ton schnarren, in der Hoffnung, damit die große Welt hinter den Buschwindröschen hervor zu locken. Welt nur vom Feinsten, versteht sich, dass mir ja keiner auf die zarten Flügel tritt. Ist mir teuer meine Ruh, mach ich schön das Köpfchen zu … Nein, wir sind keine Heimchen. Ist schon ne praktische Sache, aus der eigenen Haut zu fahren, wenn wir der Welt begegnen. Was könnte Moritz denken, wenn ich ihm eine klebe? Und was wollte der Mann, der im Zeitungsladen die Fußballkarten verkauft, als Kind früher werden? Ein bisschen mehr verstehen, wie andere Köpfe innen drin funktionieren. Mit Hilfe der Gedanken können wir uns in Andere hinein versetzen, in andere Menschen, andere Situationen, in andere Rollen schlüpfen. Schau & Spiel, Bühne und Publikum, Tanz der Gedanken-Vampire, Fantasie-Quell, Zuckerwatte im Geisterhaus, Kristallkugel, Vorhang, Spiegelkabinett und Achterbahn – also bitte, eine Freifahrt bitte danke gedankt!

Neulich, ich weiß nicht aus welchem Anlass, meinte ich zu einem Bekannten, dass ich eingepackte Geschenke ja auch recht schön finde, so unausgepackt und fortwährend lockend. »Wieso machst du eigentlich nie Geschenke?« fragte ich ihn und er winkte ab, grüblerisch: »Es gibt Dinge, die sind wichtig, und welche, die sind es nicht. Was sowieso erwartet wird, kann nicht so wichtig sein.«
Je-nun, ahso, wie war er denn auf den Gedanken gekommen? Seltsam zweimal um die Ecke gewunden. Wie sollte ich das verstehen? Macht er nun keine Geschenke, weil das Beschenkt-Werden erwartet wird? Würde er selbst beim Schenken erwarten, dass der Gaben-Empfänger sich erfreut? Oder möchte er lieber unerwartet beschenken, also sehr selten bis beinahe nie? Ei, ei, da möchte man doch rein gucken in diesen Gedankengang. Kann ihn wenden und winden, beschauen, einfärben, vor und zurück spinnen, ihm nach denken … Nachdenklich, den Gedanken nachhängen, in Gedanken versunken, gedankenverloren, gedankenlos. Dunkle und helle, trübe und klare Gedanken haben, schwere oder leichte, sich Gedanken machen …
Letztens, als ich zum ersten Mal meine Brille verlegt habe, so wirklich verlegt, so dass ich sie erst nach längerem Suchen (mit Sonnenbrille) wiederfand, da hab ich mir Gedanken gemacht. Nicht sofort, später am Tag dann, auf dem Fahrrad: Ob ich wohl ohne Brille unfallfrei radeln könnte? Ich für meinen Teil bin von Geburt an ein ziemlicher Maulwurf, aber wie mag’s beim Älterwerden zugehen? Wird man alt, weil man nichts mehr sieht oder weil man nichts mehr sehen möchte? So wie schwerhörige Omas, die nur hören wollen, was ihnen in die Strickjacke passt und sonst in ihrem zurecht gezimmerten Wachkoma hausen? Lassen sich gern Kamillengesäusel ins Ohr träufeln, ansonsten ist das Alter schuld. Oder der Sprecher, das Hörgerät, wahlweise. Mag sein, dass das Sehvermögen der Gedanken kurzsichtiger wird – ich will es dem Alter lassen, hat es sich doch für ein Leben lang Gedanken gemacht. Aber, fiel mir bei der Gelegenheit auf: wieso heißt es denn immer, dass man sich ›Gedanken macht‹? Sind Gedanken nicht bereits da, wie Buchstabennudeln in einem Suppenkessel, und tauchen auf, wenn einer drin rumrührt? Kann ich nur mir oder auch Anderen Gedanken machen? Gedanken sind das, was in meinem Kopf passiert, und zwar bewusst, also indem ich merke, dass ich jetzt gerade über diesjenwelches, über meine Brillenstärke und Gedankenkraft von mir aus, nachdenke, abwäge, befinde oder Entscheidungen treffe. Anders der Instinkt: Hand vom Herd wegziehen, ha-heiß! – ein bewusster Gedanke hingegen: lieber nicht zu dicht ans Lagerfeuer mit der neuen Regenjacke, ist aus Synthetik-Zeugs, leicht brennbar …
Das hat hier wenig mit dem Denken medizinisch-neurologisch und ansichisch zu tun, welche Botenstoffe da womöglich in der grauen Hirnmasse von Zelle zu Zelle hüpfen. Mich interessiert das Gedanken-Machen, das gelegentlich wilde Sachen mit uns veranstaltet: Wenn, angenommen, jetzt dort vorne der Mann, eben hat er mich noch sportlich überholt, vom Fahrrad stürzte, würde ich sofort mein Rad hinwerfen oder es erst am Bushaltestellenschild anlehnen, bevor ich zur Hilfe eile? So etwas denke ich manchmal. Ist mir noch nie passiert, aber wenn? Und wenn … wenn man schwach vor Angst und Schrecken wird, welcher Muskel versagt zuerst, welcher Fehler wird zum Verhängnis? … Ja, die Gedanken können Streiche spielen. Können hart sein, scharf, sauer, Dorn im Fleisch, Sumpf Dickicht Schlucht oder ein irrer Seitenpfad weitab vom Weg. Selbst wenn ich Lust auf Reisen, Wandern und Wandeln habe, wissen will, was in der Gegend ringsum steckt. Aber Gedanken solch ungenießbarer, schwer zu passierender Art kann man sich freilich auch über die Maßen machen: Und wenn mein Rad geklaut wird, und wenn ich überfallen werde, übers Ohr gehauen, und wenn mich ein Bär anfällt (hilft Klettern?), und wenn das Geländer auf dem Aussichtsturm plötzlich nachgibt? Und und und obendrein bin ich ohne Fahrradhelm unterwegs! Sowieso.

Gedanken …
Unterwegs auf dem Fahrrad also. Ist egal, ob ich oder du, denk ich mir, viele sind ja gerne, denk ich mir, mit dem Rad unterwegs. Du natürlich mit Helm.
Warum Rad? Nimm doch das Flugzeug, das Zeug zum Fliegen das schlimme. Fliegen fetzt, ja, aber die Reise geht vonstatten, als würdest du zu Hause ausgeschnitten, dann geht’s in eine karge Himmelswüste, und in einer neuen Welt landest du wie mit Leimstift eingeklebt. Stewardessen sagen einem ständig, was man tun und lassen soll, dicke, schnapsmiefige Männer erzählen jedermann von ihrem Urlaub, ungefragt, und rauchen – total heimlich – auf dem Klo. Einen Regenbogen bekommst du über den Wolken auch nie zu Gesicht. Im Zug ist das schon anders. Du kannst sehen, wie du dich durch die Welt bewegst, Express. Mit etwas Glück lassen sich die Fenster öffnen und du riechst, wie Landschaft und Witterung sich ändern: von der Keksbäckerei in der Vorstadt über weizengelbes Felderflimmern bis zu den süßperlenden Regenbächen auf den Fensterscheiben, die du dir, Reflex auf einen Wunsch, hemdsärmelig von der Stirn wischst. Ein Komfort, der in modernen Zügen rigoros gestrichen wurde, damit die Klimaanlage ordnungsgemäß arbeiten kann. Auch das Auto ist immer noch an Straßen und ausgebaute Fahrwege, Ampeln und diverse Verkehrsregeln gebunden, davon abgesehen, dass es einen Fahrer braucht, der all das konzentriert in seine Gedanken einbindet, und dass Schlendrian hier nach der Sitte des Hupens, Schimpfens, Schneidens und Vogelzeigens bestraft wird. Die Trampelpfade aber, die alten Hohlwege aus vergangenen Epochen, die Bergsattel, überwucherten Talsohlen, die schmutzigen Schleichwege im Hof und die geputzten Gassen in der Fußgängerzone – dem Inneren eines Landes, einer Stadt, eines Kopfes, wo die Details (die ›wichtigen Dinge‹) den Wegrand mit Leben anfüllen, statt jedes Mal aus dem Augenwinkel zu fliehen sich betrachten und berühren lassen – mit allem was dazu gehört; dieser Reise ist eine Radtour das Entsprechendste und das Genehmste. Und, mit Pause zwischen den Sätzen gedacht: eine Radtour kommt einer Reise durch die Gedanken am nächsten. Du kannst stehen bleiben, einen Schluck nehmen, vorbei sausen, wenn dir danach ist, kannst absteigen, unter Unterständen pausieren, unter Umständen eine Panne haben, die Panne kriegen, verunfallen sogar, kannst alten Bekannten zunicken, einen Schwatz halten (»Ey, wie jeht’s? Ne Weile nich jesehn.«), Kornblumen pflücken, die Parkdecke auf dem Gepäckträger, den Zettel an einem Geschäft durchlesen, solltest, wenn du den Fußweg nimmst, auch mal der Frau mit den dicken Einkaufstüten Platz machen, kannst jederzeit die Fahrt wieder aufnehmen, Parkplätze und Kleingartenanlagen erkunden, beobachten: eine Marille am Baum, hängt, eine von vielen … jetzt ist sie runter gefallen, Fallobst, Matsch und das Kieselsteingeknirsch unter den Reifen … Und dazu brauchst du weder eine Fahrkarte noch eine Tankstelle. Okay, ein Ochsenkarren ginge wahrscheinlich ebenfalls, wären die Tiere nicht hin und wieder hungrig, störrisch oder ermattet. Sag ich doch. Übrigens: die Frau, der wir mit dem Fahrrad ausgewichen sind, hat sich einen Tick zu leise, aber doch aufmerksam bedankt, stellt jetzt ihre Einkaufstüten kurz ab und reckt die ausgeleierten Knochen.

Be Ge danken …
Apropos. Müsste es nicht besser ›Gedenken‹ heißen? Ich denke, ich dachte … demnach sogar ›Gedachten‹? Wieso ›Gedanken‹? ›Es sei dir gedenkt‹ oder ›gedankt‹? Was denn nun? Und dann hieße es vielleicht: »Junge, ich habe dir gesagt, du sollst dich bedenken!« Die Frau vom Fußweg gerade – so eine halbwegs Stille, Holde, die sich hinter ihrer schmucken Stirn, wohl öfters aber still, auch unholde Gedanken macht, über Dinge, die sie nichts angehen und ihr im Grunde nicht wichtig sind – eine, wie sie bärbäuchige Männer vor Hundert Jahren, Pfeife und speckige Weste samt Kuckucksei und Monokel (= einäugige Brille), im Straßencafé gern gemalt hätten. Ohne Einkaufstüten versteht sich. Brust raus, die Arme im Kreuz verschränkt und sodann vom Tragen ein wenig ausgeschüttelt. Eine Wald- und Wiesenblüte in gedeckten Farben, kein robustes Heidekraut, aber auch kein mondänes, exotisches Gewächs, das gehegt und gepflegt sein will. Eine Blüte, nicht mehr taufrisch, aber von einer Schönheit, die sich preisgibt, schaut man ab und zu genauer hin. Nur dazu haben wir nicht immer Lust. Sie mag zwar Thiem heißen, doch ich glaube nicht, dass sie die Thiem, also meine alte Grundschullehrerin ist. Die hat sich nämlich nicht nur in Gedanken, sondern höchst offiziell in das Leben Anderer eingemischt und kleine, systemkonforme DDR-Bürger erziehen wollen ihrerzeit. Betragen Eins, Heimatkunde; wir basteln jetzt eine schöne Fahne aus Krepp, aber mit Hammer, Zirkel und Ährenkranz, und dann schreiben alle einen Brief an die Grenzsoldaten, die unser Land beschützen, und an Nelson Mandela, weil ja fast so ähnlich wie unser großes Vorbild Ernst Thälmann, die Kämpferfaust und zack! – Genickschuss in Buchenwald. Seid bereit! Angetreten zum Fahnenappell. Was, deine Mutti ist in der Kirche? Da kann sie aber nicht Elternsprecherin werden, wegen des schlechten Einflusses, aber du darfst den Wandzeitungsredakteur machen, Thema: die Abzeichen der Pionierorganisationen unserer Bruderländer. Fragt sich, welchen Einfluss unser Pastor hatte, der heimlich für den Geheimdienst arbeitete … Wer seine Milch nicht trinkt, wird nicht groß und stark, und: sozialistische Milch wird nicht schlecht, also hab dich nicht so. Jawohl. Milchbärtige Jungs in Lederhosen, volkseigene Produktion, weil bayrische gab es nicht, Bayern lag hinterm Vorhang im Feindgebiet (selbst wenn man da Verwandte hatte, aber es gibt Völker, die waren unter diesen Bedingungen von der Völkerverständigung ausgeschlossen). Artige Mädels, Zuchtkinder, werktätige Mütter heraus! Irgendwie hießen die alle Katja, Sabine oder Andrea damals. Wer trägt freiwillig sein Halstuch, das rote der Arbeiterklasse, die pfiffigen, zukünftigen Ingenieure unseres sozialistischen Aufbaus, ja? Braunkohle aus der Lausitz, RFT-Kofferradios aus Schönebeck. Daniels, Roberts und Martins. Immer bereit! Meine Gedanken gehören dem Vaterland, der Deutschnmokratschnrebublick, dafür lerne ich … Mich hat sie in der 1. oder 2. Klasse vor den andern bloßgestellt, weil ich nicht vorhatte, Offizier bei der Nationalen Volksarmee zu werden, wie es von einem 7‑jährigen offenbar erwartet wurde. Abziehbildchen auf dem Brillenglas, Frau Thiems süßsaurer Teeodem im Nacken, ihre kalten Hände um meine Kinderschultern. Das ist aber nicht nett von dir, schau doch, alle Jungen haben sich gemeldet, weil sie das schöne Land, in dem du leben darfst … Klei-ne wei-ße Frie-de-hens-tau-be … ’89, Revolution, ohne Genickschüsse, Mauerfall, war sie urplötzlich in der Versenkung verschwunden, die olle Schachtel. Möge sie ihr restliches Leben in Frieden verschnarcht haben. Die Frau Thiem von eben, supermarktbetankt, könnte hingegen eher Straßenmusikantin aus Dreischlüpfersruh gewesen sein, nen bürgerlichen Job gesucht mittlerweile, als Ansagestimme für Fahrstühle und Straßenbahnhaltestellen. Aber eigentlich hat sie sehr viel von Tante Sabine Rockstroh, mit Pudel: eine nicht weiter aufregende, in den Jahren ein wenig festgefahrene Seele mit dünngezupften Augenbrauen, mit Schnoddermund und dem Dreck zweier Scheidungen im Gepäck …
Diese Frau jedenfalls, erst schief geguckt, weil Rad auf dem Fußweg und das, der du dann aber artig und wohlerzogen Platz gemacht hast, wahrscheinlich unerwartet, »das ist aber nett, junger Mann« – hat sie sie nun dir gedankt, deiner gedacht, sich bedunken oder bloß gedenkt? Gebrauchen wir ›Gedanken‹ gar nur, weil ›Gedenken‹ schon was anderes bedeutet? Gedenken ist ja, sich an jemanden oder etwas zu erinnern – die frühe, kühle Milchsonne auf dem Fell der Osterlämmer bei Oma und Opa auf dem Lande … ; also rückwärts, oder vorwärts; etwas beabsichtigen, eine Idee in die Tat setzen wollen – ich gedenke, mir eine Karo-7 in die Fahrrad-Speichen zu heften und knatternd Krokodile zu schikanieren … Der Gedanke ist das Ergebnis des Denkens, eine Idee, ein geistiger Einfall. (Kein ›geistiger‹ Einfall wäre der des Aussichtsturms oder der Mongolen nach Europa.) Was aber haben diese nun mit dem Dank zu tun? Man könnte ja … oder soll ich gleich, also gut … Tatsächlich! Im schlauen Buch über die Herkunft der Wörter steht, dass ›denken‹ und ›danken‹ den selben Ursprung haben und sich auch in der Bedeutung nah geblieben sind. Das gilt zumindest für die Sprachen, die auf die alten Germanen zurückgehen. So zum Beispiel im Englischen, wo es to think änd to thank heißt. Ähnlich lautete es im alten Deutsch vor grob gepeilt Eintausend Jahren thenken oder thenkian für ›denken‹, githank für den ›Gedanken‹ und thank für ›danken‹. Denken und danken waren also wirklich ein und dasselbe Konzept. Gedanke, Gedächtnis, Andenken, Andacht – und der Dank als Denken an eine empfangene Wohltat. »Na Herzlichen! Dafür werde ich an dich denken und mich gerne an dich erinnern. Hast jetzt nen prächtigen Platz in meinem inneren Poesie-Album.« … Und um wieder darauf zurück zu kommen: Ge‑danken könnte demnach quasi sein, meinen geistigen Einfällen zu danken, schön dass ihr da seid, das Erinnern an empfangene Ideen.
All diese hübschen Worte rund um die Gedanken klingen sich heute noch sehr ähnlich in den germanischen Sprachen. Von der bayrischen Alm bis an den norwegischen Fjord, vom sächsischen Überbleibsel in entlegenen Siebenbürgen bis zum vernuschelten Kaugummisprech der nordenglischen Industriestädte. Sie bezeichnen indes, erlaube ich mir generell zu behaupten, nicht nur den Vorgang des Denkens, das Erkennen, sondern das Ergebnis dieser Kopfarbeit, das Wissen, und – ein bisschen weiter gedenkt (vorwärts und rückwärts) – den Umgang damit: die Einsichten und Absichten, den Sinn, den du zu erkennen beliebst, die Gesinnung. Mit andern Worten: deine ›gedankliche‹ Stimmung. Wie gehst du mit deinen Gedanken um? Was machst du aus der Einsicht, dass Mathematik dir stinkt, jedoch sehr nützlich sein kann? In welche Richtung wandern deine Gedanken, wenn du bemerkst, dass dieser nervige Moritz nur dein Freund sein will, weil er’s auf deine Fußballkarten abgesehen hat? Ärgerst dich, nur ein kleines …, lässt ihn Links liegen, stellst ihn zur Rede, machst dir eh nix … ?
So, wie die Gedanken zu unserem Innersten gehören, können sie natürlich auch Ausdruck unseres Charakters und unserer Stimmung sein. Einige Gedanken sind weitscheifige, ausladende Gesten, die sich entladen müssen wie ein Niesanfall, nicht auf ihre Umgebung achten dabei und die eine oder andere Vase zerdeppern. Andere sind scheu und sanftäugig wie ein Reh mit Sturzhelm, wieder andere klar, vom Laser in die Hirnlappen graviert, über jeden Zweifel erhaben. Tragender noch wird in diesem Zusammenhang die Aussagekraft über komplette Gedankenwelten. Leute denken sich ja alles mögliche, jeder in seinen Fahrrinne und nach eigenem Gutdünken! Herr Wohlgemut zum Beispiel hat permanent 27 Grad Sonne im Kopf, sogar wenn’s zum Weltuntergang hagelt: Ach, lass das Kind doch die Herdplatte anfassen, so lernt’s, wird ja nicht so dramatisch … Frau Spritzig sitzt die ganze Zeit in einem Expresszug und blubbert und gluckst wie das Eimerwasser beim Befüllen einer Spritzpistole: Ui, mitten auf den Laptop gekackt die Spatzen, sind aber putzige Gesellen, und schlau, sooowas von, fast wie meine kleine Nichte, die mit 8 schon Schach … Engelbert Engstirn ist zwar immer bereit, wenn’s »seid bereit« tönt, hat sonst aber wenig Platz für Einsicht und Gedenken dort innen zwischen den Schläfen: Schuld eigene, wer wie eine Wildsau kachelt und dann einen Unfall baut, brauch sich nicht … ist geschenkt, und Geschenke mach ich nicht, bin schließlich selbst auch nich keine Sammelstelle für diese sentimentalen, unnützen … Tja. Der Don Schamanon, wunderliche Type, irgendwas zwischen Stein der Weisen und Narrenschelle, braut Schnaps aus Eidechsenspucke und Kaktustränen und verzaubert die Gedanken, indem er uns mit den Schlüsseln für etliche Wolkenschlösser die Augen bestreicht. Anders Darius Großspur. Der tut nur wie ein Zauberer: Freund von mir, nicht der berühmte Schauspieler, nein, der die komplette Werbung für diese Supermarktkette gemacht hat, du weißt doch, hat gestern von einem Wahnsinnsprojekt … Na ja bla bla, versteckt sich hinterm Spiegel, wenn der Trick nicht funktioniert. Gedankenstrich: – Welche Art Gedanken wer hat, welche Charaktere sich tummeln, ob Krokodil, Heimchen oder kecker Spatz, das lernt sich lesen und einschätzen, wie sich Tischsitten und Begrüßungsrituale lernen lassen: nicht immer nur am eigenen Tisch, nicht bloß im eigenen Hausflur, besser unterwegs, auf der Straße, bei einer Radtour gelegentlich. Von welcher Sorte unsere Frau Thiem wohl sein mag … ?

Gedanken …
Unablässiger Strom von Eindrücken und Ausdrücken, Wirbel von Ideen, darinnen Takt und Betonung, Ausrufezeichen wie Kreuze in den Giebeln von Bauernhäusern, die mit Blut bestrichenen Türen der Kinder Gottes, Kometen, die alle Jubeljahre die Milchstraße in ihrem ewigen Umlauf überstrahlen. Spuren von Giganten, Delfinschwärme im Kielwasser ihres Echolotes, die Schwanzflosse oder der Schatten oder die Ahnung eines, gefräßiger Meeresungeheuer, zum Laichen den Fluss deines Geistes hinauf, das ganze Sonnenlicht in einem Tropfen gebündelt, das innere Anschauen des ganzen Äußeren, dich umgibt und dich durchfließt. Sinngebend in einem einzigen Moment, sinnfrei in Wellen und Mustern, sind nur, weil die Natur die Vollkommenheit schätzt. Verblüfft erschrocken lachend voll Grimm und Sehnsucht staunend offenen Mundes die Lust und die Pein, so vielfältig und so wunderbar nah, ins Sein geschmiegt, unverstellt wie die Gesichtsausdrücke kleiner Kinder –

Trinkt, o Augen, was die Wimper hält
von dem gold’nen Überfluss der Welt!

Schlürfbereiter Lippenschurz, die Schöpfhände, geistig, wie zur Andacht eingelassen, ins Chorgestühl gestützt ein Einfall, den du selbst nicht glaubst, Altarbild vom Schnitzer Riemenschneider, Dürers Mutter, ein Maler der Wiedergeburt …
Haltung, Herrschaften! Mögen sich auch Rasereien zum Strudel mischen. Im Schatten unter Weiden am Ufer. He da! Kommt ein recht passabler Gedanke den Bordstein lang geschlendert, möchte man festhalten, mit ihm reden, ins Licht zerren, sich entwickeln sehen, aufpeppeln, vielleicht aufheben für später, aufschreiben. Aber hallo! folgt ihm gleich ein Weiterer in der Zeit, bis du vom Rad gestiegen und’s ans Bushaltestellenschild gelehnt … und der Neue ist insgleichen wert, dass du ihn festhältst, und, so, weiter: Sturm im Kopf, die Gedanken spielen Springflut! Derweil beobachtet dich Frau Thiem, hat ja kurze Verschnaufpause, und denkt vielleicht: ›Hey, warum schiebt der Junge sein Rad am lichten Tag mit eingeschaltetem Dynamo? Das gehört sich wohl doch …‹ Und du würdest dich über die Frage wundern: ›Wieso? Ist das schlimm? Verbrauche ich jetzt mehr Energie?‹ Und dann? Beschleicht dich mit einem Mal das schlechte Gewissen, bekommst du Angst vorm Klimawandel, obwohl der wenig mit deinem Fahrraddynamo zu tun hat. Nur weil du gedacht hast, dass Frau Thiem gedacht hat … Und weshalb hier der Klimawandel, ist das Thema schon so drin, wie die elende Deutsch-Fünf im Zensurenspiegel? Fürwahr, manchmal verheddert sich was, ein Faden im reißenden Gedankenstrom, zeigt sich als Knotenknäuel, das es zu lösen gilt, oder von selbst, weichen wir unsern Kopf lang genug ein. (Brainfuck nennen das einige, erwachsenes Geheimwort, ouaughhh!)
Wo wir gerade dabei sind: Frau Thiem ist momentan die Ehefrau des Mannes mit dem gedachten Fahrradunfall. Er denkt sich Witze und Zoten für eine Fernsehsendung aus, die der Moderator später vor der Kamera vom Stapel lässt, als wären sie ihm gerade … Gelernt hat Hannes Meister-Thiem ursprünglich Förster. Er versteht nicht, wieso sich so viele Leute über Doppelnamen aufregen, dafür könntest du mit ihm aber ausgiebig über Geschmack sinnieren: In selbstgemachten Holunderblütensirup gehört natürlich unbedingt Zitronensäure, und Wild vom Grill, Wachteln beispielsweise, nur mit einer Prise Meersalz, dazu frische Garten-Senfrauke oder Bärlauch, der gibt eine erlesene, feine Süße im Abgang, ordentlich kauen, Koriander geht zwar auch, aber der findet noch bessere Verwendung in Brombeermarmelade. Sagta, nich etwa aus Jux. Seine Frau wollte soeben Gelierzucker besorgen, sicher bist du ihr schon über den Weg gelaufen, seiner Wald- und Wiesenblume … »Kann man sagen«, könntest du sagen. Tatsächlich kommt ja die Thiem gerade mit Tüten voller Gelierzucker aus dem Einkaufszentrum und hängt so im Gehen ihren Erlebnissen und Gedanken nach: Nicht witzig, denkt sie, mein Mann ist zu Hause nicht witzig. Und was man so im Einkaufszentrum über sich ergehen lassen muss, ist auch nicht witzig. Die Leute machen die Dinge einfach nicht, wie sie sein sollten. Dynamo an bei Tageslicht … Ist das Vergesslichkeit? Und wo hört die auf und fängt die Schlampigkeit an? Kannichnich ausstehen so was! Und ich kann’s auch partout nicht ausstehen, wenn ich in der Kaufhalle von was Neuem angequatscht werde. (Passiert Kindern nicht so häufig, Erwachsenen aber.) Kauf mich, ich bin neu! Interessier dich für mich, hast du kein Funken Neugier im Leib? Werde dein Leben revolutionieren … Letztens standen da ne Weile so Asiaten, mit Infomaterial über eine gaaanz neue altehrwürdige Lebensphilosophie: Kennen Sie schon unsel neues Meditationszentlum in del Meyelbeelstlaße? Meistel Li Yuwai lädt Sie helzlich … Bestimmt Soja-Yoga-Fengshui oder Verschwägertes. Waren nach ner Weile wieder weg, die Asiaten, kein Wunder, hat ja niemand mit ihnen gesprochen oder nen Flyer eingesteckt. Aber jetzt! wie aus dem Nichts, standense wieder da, dieselbe Masche, dieselben Sprüche. Also wenn das nicht …, also ich wette, das hat sich jemand so ausgedacht, damit ich denke … Reine Strategie: erst da, aha, die sind da – dann weg, jetzt wieder da, ach schau an, die waren ja weg, also jetzt lassich mich vielleicht doch anquatschen, bevor se wieder weg … Ist ja immer noch neu anscheinend, und weil die Asiaten so schön lächeln, könnt ich mich doch mal interessieren. Ha! Wiedererkennungseffekt, ich durch-schau-e Euch ihr Lebensverkäufer ihr! Das ist doch Werbung, die dreist mit unseren Gedanken spielt (immer tut sie das). Kein bisschen Lebenshaltung vor lauter Kommerz! Na besten Dank auch! …
So, und da kommt mir, also mir in meinem Kopf, ein völlig anderer Gedanke: Das Wort ›Kommerz‹ nämlich, also die allgemeine Kauf- und Konsumierwut, das Geschäftemachen um seiner selbst willen, hängt direkt mit merci, dem französischen Wort für ›danke‹ zusammen. Wundersame Wege der Sprache … Merci heißt eigentlich (wie das englische mercy) ›Gnade‹, kommt aber vom lateinischen merces, mercedis her, was den Römern so viel wie ›Lohn, Belohnung, Preis‹ bedeutete, wo nun die Verbindung zum Kommerz wieder deutlich wird. Erst unter dem Einfluss des Christentums wandelte sich der Sinn zur Gnade, dem Lohn des Herrn (nicht unbedingt Gottes), dem Ehrenpreis für Treue und Glauben. Man kann im Grunde sagen, dass hier der Dank dem Wohlwollen einer höheren Macht anheim gestellt wurde. Vergleichbar ist das mit den Dankesworten in anderen nicht-germanischen Sprachen: grazie auf Italienisch und gracias auf Spanisch (beide von der gratia, der Anmut, Freude oder Gefälligkeit der Lateiner, die ebenfalls mit gratias ago ihren Dank abstatteten – eine Gratis-Information, sozusagen für bloßen Dank zu haben), oder etwa teşekkürler auf Türkisch, abaraka auf Mandinka, schukran in vielen arabischen Ländern und selbst ευχαριστώ auf Griechisch. – Alle geben als Dank mehr oder weniger etwas Konkretes zurück, verbunden mit einem Wunsch für das Gegenüber. Während man in anderen Sprachen also etwa sagt wie: Gesegnet, beschenkt seist du, Gnade, Freude und Glück mit dir, mögest du bei 27 Grad Hitze im Schatten wandeln und keine schweren Melonen unter den Armen tragen müssen – auf den ersten Blick ungleich wertvollere Dinge als ein schnödes Danke – genügt auf Deutsch, Englisch, Flämisch, Schwedisch oder Buxtehudisch das Denken und Gedenken. Ich weiß nicht, ob das eine besser als das andere ist, ein Danke egoistischer als ein Wunsch sein soll oder weniger herzlich. Zumal »du wirst in meinen Gedanken sein« mir sehr viel direkter und wirklicher klingt als zum Beispiel »möge Gott deinem Schicksal unter die Arme greifen«. Kann gut ein, dass die Religion und die Vorstellung darüber, ob und wie wir unser Schicksal bestimmen können, eine entscheidende Rolle spielen. Will mich da lieber nicht zu weit aus dem Fenster lehnen. Aber, falls nicht bereits geschehen, es könnte doch jemand bittebitte ein Buch schreiben oder einen Film machen, noch besser, über das Danken in verschiedenen Sprachen und Kulturen. Ein denkwürdiges Stück Kulturgeschichte, es sei von Herzen gedankt.

Gedanken … Ziehen ihre Kreise, wie man so treffend sagt. Um dieses und jenes Zentrum, schlängeln sich um Themen, Steinwürfe und Wellen rings, Aussichtstürme Augenstürme, Pflug in der Ackerkrume, grasen und blöken sie, mähen und säen, sehen, fühlen und leben, regnen kreisweis und dörren knäuelweise. Kreise werden zu Knoten, verknüpft, Netze bildend, fahren auf großen Fang aus und kehren wieder heim. Jeder Mensch hat auf diese Art seine Gedankenkreiswelten, je nachdem, welchen Gedanken man schon begegnet ist, Gebirge, Marsch, Steppe, Stadtdschungel, Watt und hohe See. Frau Thiem und Frau Rockstroh gehören mehr in die eine Gegend, Moritz ist in einer anderen Ecke zu Hause, doch wohnen sie alle im selben Viertel, begegnen sich auf dem Fußweg und haben alle gemeinsam eine Schwäche für Radtouren.
Manchmal sind Gedanken kompliziert und deshalb anstrengend, geht mir wirklich auf … Aber manchmal kannst du nach tristen Strecken, händeringend, kräftezehrend, die schönen, sagenhaften Gedankengebäude betreten. Hoch aufragende Schlösser, mit Glanz und Geheimnis angefüllt, bewillkommnet von Fabelwesen, dem Chor der Möglichkeiten, Scharen von Sternen, die vor den Balkonen aufstreichen. Genauso begegnest du auf deiner Reise in die Gedankenwelten Anderer wertvollen Menschen, je eigene Gebäude im Kopf: Bärenzwinger, Himmelsstürmer, gezimmerte Hütten, Museen, da schwerhörige Großeltern Schätze ferner Kindheiten horten, Einsiedeleien und Karawansereien, Sakristeien, mit Reliquien gepflastert, Erinnerungen, an denen mancher schwer trägt, weil er nicht loslassen und sich freimachen kann, möglicherweise, nur keine Furcht, ein modriges Verlies, dort einer versinkt, sollten nicht die Krokodile … Es steht dir frei, jene Welten auszukundschaften, umso mehr du Ideen und Baumaterial hier findest. Keine Sorge, es haben schon ganz Andere die Kunst des Gedanken-Machens kultiviert, ins Äußerste getrieben gar: sich die wirkliche Welt als scheinhafte gedacht und folgerichtig sich selbst ins neue Echte hinüber gedacht: orange Toga, die Reiskörner abgezählt, die Liebe eines Gottes als Milch des Lebens, Selbsthypnose im Klang ewiger Silben … Aber das sind Spezialisten, die diesen Weg nach langen Reisen wählten. Wir haben, einstweilen und immer, die Möglichkeit, verschiedene Brillen aufzusetzen, können unsere Gedanken verströmen, testen, in der Welt zum Glühen bringen, blauschimmernde zarte Rauchfedern aus den Glutbetten steigen, und sie, wenn wir das für richtig halten, verschenken.
Doch Obacht! wär ja zu schön: Da die Gedanken unser eigenes Inneres und das von Anderen berühren, sollten wir sie mit Bedacht und Umsicht behandeln, wählen und äußern. Uns eine Haltung angewöhnen, eine Stimmung, die sozusagen ›gesellschaftsfähig‹ ist. Ich kann nicht einfach aufstehen und meiner Klassenlehrerin ins Gesicht sagen, dass sie ne olle Schachtel ist. Umgekehrt sollte sie mich nicht vor allen anderen blamieren, weil ihr nicht passt, dass ich kein Soldat … Und ist Mutti auch mal doof, dann behalt ich das für mich, weil sie’s ja bestimmt nicht immer ist. Ein ausgesproch’nes Wort vermag länger zu verletzen. Ein Glück, dass ich nicht immer weiß, was die andern gerade denken … Innenwärts ist ähnliche Vorsicht geboten: Einmal aus- und zu Ende gedachte Gedanken sind stark, sie bleiben, machen nicht auf den Hacken kehrt, sie verändern sich zwar mit mir, umdenken, werden jedoch sehr schwer vergessen. Von wegen »daran ist kein Gedanke«! Zu spät, gleich sitzt er gegenüber am Tisch, grinst unheilvoll und spuckt mir in die Suppe: Klebriger Wortwerker du! Bosheit im Salzmantel, verzuckerte Füllung aus Stachelbeergrütze mit Tran. Mhm … ja vielleicht … meine Sprache eine aufgeplusterte Stimme ohne Resonanzraum, was ich zu sagen habe, höchstens Mittelmaß. Ja vielleicht … Wird wahrscheinlich eh kein Aas lesen, was ich hier tipse, also hör ich jetzt – – –
Zweifel, Ängste, Treibsand … Für Gedanken gibt es keine Rückrufaktionen wie für Schokoaufstrich, giftiges Kinderspielzeug, ein halbgewalktes Kotelett oder undichte Schlauchboote. Die Gedanken sind frei, aber nicht unfallfrei, heißt es. Muss ja nicht gleich die Herdplatte oder ein Tümpel voller Piranhas sein.

Auf der anderen Seite kann man Gedanken bändigen, in Form bringen, abwiegen und gewichten, analysieren und strukturieren. Wie, dafür gibt es keine (oder eben sehr viele vorgebliche) Patentrezepte, außer vielleicht, dass du dich ab und zu fragst: woher jetzt diese Idee, was sagt mir dieser Gedanke, wenn ich ein Anderer wär, was will ich, und brauche ich jene Überlegung in einer bestimmten Stimmung? Lässt sich rechtschaffen durch den Strom steuern so, selbst wenn das, unter extremen Umständen, komme jetzt drauf, einen zweifelhaften Ruch bekommen mag: Automanipulation, sich zurecht biegen, Teile seiner Seele verschließen …
Diktaturen wie die DDR eine war und leider noch viele existieren, inklusive der Diktatur des Kommerzes, Staaten und Menschen, die alles bestimmen wollen und vorsagen, diese manipulieren oder ›diktieren‹ (siehda) das Leben bis in die Gedanken hinein. Hab ich von meiner alten Grundschullehrerin gelernt. Und es beginnt schon, wo das Sagen und Aussprechen verboten ist – verbieten sich da nicht bald auch die Gedanken? Ergo: Ver- und gebiete dir selbst die Gedanken mit dem rechtem Maß. Menschen, die eine Diktatur erlebt haben, ob nun durch einen Staat oder durch Personen, von denen sie abhängig waren: böse Stiefmutter hinter den Bergen, Freunde, die nur Freunde sind, wenn & weil, Lehrer, die nicht verstehen können, wie man nicht verstehen kann, mit Lieblingsschülern, denen du definitiv nicht angehörst, Eltern, die keine bedingungslose Liebe in sich tragen, sondern an Leistung und Betragen knüpfen, ob sie für dich da sind; aberalso! mein Kind, ja, mein Kind würde nie eine Deutsch-Fünf … – solche Menschen, die Diktaturen jedweder Form erdulden mussten oder müssen, sind oft extrem vorsichtig, geht es darum, Gedanken preiszugeben. Wenn sie es auch anders wünschten, sie sind gehemmt, verschlossen, bis hin zur Körpersprache, ein plötzliches Durchzucken, ein Anflug Erinnerung, das Wetterleuchten in alten Narben.
Ich zum Beispiel, nix Dramatisches, habe immer ein ungutes Gefühl, wenn ich die Polizei sehe. Gibt eigentlich keinen Grund dafür, weder bin ich Verbrecher noch sie die Faust der Unterdrücker. Gab aber Zeiten, da war das anders. In meiner Kindheit hüteten sich meine Eltern davor, in Gegenwart sichtbarer oder unsichtbarer ›Polizisten‹ Witze über den Staat und seine Politiker zu machen. Und als es auf die Revolution zuging und ich zu Demonstrationen mitgenommen wurde, war stets ein brenzliger Argwohn zwischen den Leuten und der Staatsgewalt am Rand zu spüren. Mich einem Polizisten als Freund & Helfer anvertrauen? Mir ist noch immer, als stünden sie ›auf der anderen Seite‹. Ähnlich ergeht’s mir, sobald größere Menschenansammlungen beginnen, Sprechchöre zu skandieren und aus einem Munde Parolen zu rufen, oder wenn auf Konzerten die Musiker das Publikum animieren, jetzt alle im Takt geklatscht, die Hände hoch, jawoll, und alle zusammen! Das mussten wir als Kinder in der DDR jeden Tag: Seid bereit – immer bereit! aus vielzuvielen vielzunaiven Kinderkehlen. Kommt mir ein Gefühl dabei von Zwang, Gehirnwäsche und Massenwahn. Obwohl es doch ein schönes Gemeinschaftsgefühl sein könnte, trauriger Komödiant du …
Andern ist so was egal. Besonders mitteilsame Leute, Lehrer, Künstler, Einsame oder ein Herr Darius Großspur denken ohnehin laut: Wo hab ich denn nur … sollte mir der Moritz … aus dem Portemonnaie …? Hat gestern von seinem Klassenkameraden, dem mit der Sammlung, den Vater kennengelernt, also wie einer wie der Kinder in die Welt setzen kann! Der lebt doch von der Hand im Mund … Laute Selbstgespräche, wird übrigens erzählt, sollen vortrefflich helfen, sich Bären und Wölfe vom Leib zu halten, zumindest in einem Wald wo es denn Bären und Wölfe gibt. Wie auch immer: Gedankenschreier, Gedankenflüsterer, Gedankensauger, Gedankenverkäufer. Im Internet treiben Konzerne ihr Unwesen und zeichnen unsere Gewohnheiten auf, um uns dann maßgeschneiderte Produkte und Dienstleistungen zu verkaufen, uns vorzuschlagen, doch schön bei unseren Gewohnheiten zu bleiben, nicht weiter rinks noch lechts vom Wege zu gucken, und um uns die perfekte Radtour via Handy zu diktieren, bei der wir just das erleben, was wir zu erwarten gewohnt sind. Okay, auch das ist vielen egal, weil sie sich gern in ihren Gewohnheiten bewegen, nicht drauf achten. Wer sind wir, sie zu richten? Aber was sagt mir dies: dass – wie jüngst geoffenbart – Geheimdienste unsere E-Mails mitlesen, uns indirekt die Gedanken auf potenzielle Gefahr abtasten, und dabei kein Empörungsschrei durch die Gesellschaft läuft? Über die Freiheit der Gedanken gibt es ein berühmtes Lied. Nur wie weit ist es mit diesem Gut gekommen? Tragen wir zu schwer daran? Denn die Freiheit will freilich, dass wir selbst entscheiden, je aufs Neu, mit wem wir unsere Gedanken teilen und mit wem nicht.
Begeben wir uns in eine Welt, die dem Gedankenlesen sehr nahe kommt? Dem echten, nicht bloß dem gedanklichen Gedankenlesen. Von einer Gedankenlese-Maschine haben schon viele geträumt: neugierige Kinder, misstrauische Eltern, Feinde und Freunde, Spieler und Berechner, und nicht alle Träume blieben schön oder blieben gar nur Träume. Harmlos noch der Gedank-o-Mat in einer fantastischen Geschichte, erstaunlich aber erklärbar das Zahlen-Raten am Computer (mal versuchen den Computer auszutricksen). Wie sieht’s dagegen mit einem Lügendetektor –
»Sind Sie der junge Mann, dessen Fahrrad so laut knattert und klappert, dass Oma Inge aus ihrem freiwilligen Koma erwacht ist?«
»Äh … nein.« Entzücktes Schelmengrinsen.
piepiepiepiep! verräterische Hirnströme!
»Fünf Tage Fahrradverbot und ein Zwangspraktikum im Altersheim!« Der Hammer, richterlich.
– Seelenklempner und Wahrsager –
»Ich ahne, ich sehe, ich lese in Ihrer Aura: Ihre Mutter heißt Daniela, Ihr Vater Andreas. Richtig?«
»Ja! Aber–«
»Sie fragen sich, woher ich das weiß?«
»Ja, aber–«
»Sie werden Ihrem Aber gleich einen Fakt folgen lassen, der mich aus den Socken haut?«
»Ja, weil eigentlich ist’s umgedreht: Meine Mutter heißt jetzt Daniel, mein Vater Andrea.«
»Wie das! Geschlechtsumwandlung?«
»Ja.«
»Alle beide?«
»Ja.«
»Auf einmal?«
»Ja, Pärchen halt …«
»Und Sie?«
»Also ich find, das gehört nicht hierher.«
(– mit Zusatzausbildung Hypnose –)
»Wenn ich mit dem Finger schnippe, sind Sie ein schwules Mädchen.«
»Aber–!«
schnnnipp
»Verdammt.«
– Ratespiele zum Testen der telepathischen Veranlagung –
»Rate mal, an welche Karte ich gerade ganz fest denke. Komm, rate mal!«
»… Kreuz-Ass?«
»Nö.«
»Kreuz-König?«
»Nö.«
»Dann aber Kreuz-Dame!«
»Auch nicht.«
– – –
»Mhm … Karo-7 vielleicht?«
»Bingo!«

Bisschen albern, geb ich zu. Diese Formen des Gedankenlesens, proto-paläo, utopisch, archaisch bis forensisch, sind letztendlich nicht das, was ich meine, in den Gedanken Anderer unterwegs zu sein. So wie Andere andersrum stets in meinen Gedanken weilen: Verwandte, Schätzchen, Idole, Freunde, alte und neue Liebe, Verabscheute und Begehrte. Bleibt dennoch ein Grenzgang, weil, bei aller Vorsicht und schützenswürdiger Freiheit, ohne Austausch und Preisgeben ist Reisen und Verstehen kaum möglich. Und dann, achiwo dann, hängt wieder alles mit allem in einem Netz, in Kluft und Sonntagsstaat, begrüßt sich, den Hut gezückt, schwenkt Weihrauchfässchen und bespritzt sich mit geweihtem Regenwasser, nascht vom gleichen Teller, kocht die gleiche Suppe: Das hab ich doch irgendwo … hat Opa anno-iks-zumal gesagt … Dingsbums da heuer eine sehr interessante Meinung geäußert, die ich mir zu eigen … – Keine Denke, die sich nicht an andern Denkern geschult! Weiß man im Prinzip nie, wessen Gedanken man gerade nachplappert. Es ist ein episches Ringen, seit der erste Urmensch übers Feuer hinaus ›Feuermachen!‹ gedacht. Ein ewiges Gedicht auf die Welt, das Reim und Widerschein ersonnen, Jamben trällernd, mongolengleich eingefallen in Gedankengärten, weil mit dem Morgen ein Zitat von Hauptmann über der Gegend aufging, die Luft anstimmte und auf den Weg vor meine Füßen kleckste.
Ah-so darum. Ranken sich ne Menge Sprichwörter um den ehernen Turm der Gedankenfreiheit und treiben Schabernack mit ihr: * Gedanken sind niemals frei, sie sind begrenzt vom Horizont des Schädels. / * Gedanken sind erlaubt, aber zollfrei sind sie nie. / * Kann sein, die Gedanken sind noch frei, da ist das Denken schon vorgeschrieben / * Gedanken sind frei-willig – Ganz recht. Im Grunde sind’s nicht die Gedanken, sind wir’s, die frei sind, mit unseren Gedanken zu machen, was unser Wille ist: sie laufen lassen, verbergen, bändigen, dressieren, veräußern, na das hatten wir.

Gedanken …
Die Unangehemen, Trüben, Schweren, auch sie sind. Nicht schlimm, kommen und gehen lassen, eine Weile unter ihren ätzenden Kommentaren stöhnen, mit sahnig geschlagenen Augen übers Ufer springen, schwimmen kannst du lange schon. Sie gehören dazu wie der Tod zum Leben zum Strom des Seins und zum Alldas. Lassen sich sowieso nicht aussperren oder meuchelmorden. Stattdessen helfen sie dabei, deine Ängste (und die der Anderen) zu verstehen – wie mit dem Fahrradunfall des werten Gatten unserer Frau Thiem: Freilich, ’s war ein verkürzter Gedanke, wie in einem Atemzug die Spree rauf und runter gepaddelt. Denn die Frage, ob ich helfen würde, hatte ich mir im Stillen bereits zu beantworten erlaubt. Was hier seltsam seinen Ausdruck fand, war eher die Furcht vor der echten Situation, und ob ich dann wirklich fähig und hilfreich wäre, oder doch von Hilflosigkeit überrascht und später vom schlechten Gewissen geplagt.
Wie gut, dass nichts passiert ist. Alles wieder aufgestiegen und wei– … hoppla! Pudel an Leine, quer über Weg, gehört sich nicht, die Rockstroh, dass die Leute wieder nur keine Acht … halt! Das lass getrost beiseite. Aber den Dynamo, den kannst du ruhig ausschalten. Helle hat’s vorerst genug. Dein Blick folgt den Schatten des Vorderrades und du merkst, dass die Schönheit auf der Straße liegt, sich immer rundet wie Gedankenkreise, vollendet in einem einzigen Moment, und dann, erst dann, so einfach und schlicht und alltäglich ist wie … wie … ein Regenbogen, Heidekraut … wie eine Umarmung, ein Stück Schokolade, ein treffendes Wort zur rechten Zeit. Für das Glück des inneren Auges braucht’s zum Glück gar nicht viel, wohl aber dann und wann den passenden Input, die Energie zur Stimmung: Manchmal hilft es bereits, deine Gedanken aus der Knechtschaft deiner Gedanken zu befreien – Ihrer Durchlaucht, durchbärlaucht, des obersten Hannes aller Waldmeister, doppelnamig einzüngig – und ihnen Abwechslung oder Raum für Beobachtung zu gönnen. Muss überhaupt nicht kompliziert sein (Lust auf ne echte Reise mit Schlafruckseesack und Allemdrumunddran?). Was dir in den Sinn kommt, wird zur Vorstellung verbunden, wird zur Bühne: schwarze Johannisbeeren im Kleingarten, der Lichtertanz unter einer bewehten Baumkrone, das Echo zwischen zwei Hochhauswänden, nimmt auf, wirf ab, die Luftsäule über dem Gitter der U-Bahnschächte, eine winkende Hand von der anderen Straßenseite, steigt ins Auge und von dort ins Herz. Der Geschmack, den die Welt im Kopfe macht, genügt, ohne dass wir ihn immer in Worte einpacken, an- oder auspreisen, Lob zum Lohne, merci. Die Gaumenfreuden der Gedanken sind auch ohne Inhaltsangabe zu haben, zergehen auf der Zungenspitze, der einzüngigen, wie dafür geschaffen, konservieren sich in der Erinnerung, der Einsicht, der Idee, sind ihre eigenen Schamanen, Gesinnungsmotoren in der Keksfabrik, nicht immer ganz knusper, schnurrig, getunkt.
Das ist’s, was Gedanken macht und was Gedanken machen. Wenn’s mal leichte Kost sein darf, Atempause. Und sonst? Nur zu, nur Mut, offen und bewusst sein, wertschätzen und achten, das Denken (und das Umdenken ab und zu), den Seelenklimawandel pflegen. Wir stecken nicht und nie wirklich in anderen Köpfen, aber wir können es uns denken. Wir können uns mit ihnen freuen und mit ihnen leiden. Gedanken sind ein Schatz, zu hüten und zu hegen, zu schmücken und zu zeigen, zu nutzen und zu teilen. Weil mir Geschenke-Machen Freude bereitet. Weil du mir wichtig bist. Verbleibe mir
denkbar dankwürdig

Dein Herr Wortikon

PS: Die Gedanken sind frei, die Wörter aber werden weiter observiert.

Wort und Text: Mathias