Dünnpfiff

| Lesealter: ab 8 Jahre |

Otto und Montezuma sind Geschwister. Meistens verstehen sie sich gut. Als Kleinkinder haben sie zwar ins selbe Töpfchen gemacht, aber inzwischen hat jeder sein eigenes Zimmer, seinen eigenen Willen und die eigene Darmflora. So weit alles klar auf der Andrea Doria. Doch manchmal nerven und piesacken sich die Brüder, und auch das ist normal. Jedenfalls in einem gewissen Rahmen. Während der flotte Otto von Charakter ein sprudelnder, quirliger Draufgänger ist, wirkt Montezuma eher bedächtig und zählt zu jenen Menschen, die nicht und nie vergessen, was ihnen Gutes oder Böses getan. Seine Erinnerungen daran behält er lange in der Magengegend wie das Gefühl nach einem deftigen Risotto. Zwei Typen also, die unterschiedlicher nicht sein können. Zwei Temperamente, die, wenn sie aneinander geraten, aufeinander prallen wie zwei fort gespülte Kackwürste in den Stromschnellen der Kanalisation, und die sich dann mit ihrer enormen Stinkigkeit gegenseitig anstecken und aneinander kleben bis zum Jüngsten Gericht.

Oft sind Mama und Papa das Jüngste Gericht für die Streithähne. Mamas und Papas lassen sich außerdem nicht so gut ärgern oder sagen einfach ›Stopp!‹. Deshalb bekommt eigentlich immer Montezuma die volle Ladung ab, wenn sein Bruder Langeweile hat und von Streitlust gepackt wird. Meist kommt Otto angescheißert und labert kreuz & quer gerührte Kacke: »Zehn plus Schnapszahl durch weg und Dreißig radiert ist gleich zu spät!«
Montezuma: »Wenn ich die Rockstroh wär‘, würde ich sagen, das ist ein glatter Durchfall.«
»Aber die Frau Rockstroh habe ich gar nicht in Ma-thehethethe!«
»Mir doch Wurst! Das ist … das ist geistliger Dünnpfiff, so!« Und dazu ein Blick wie saure Milch, kurz bevor sie in den Abfluss wandert.

– Dünnpfiff, da brauchen wir nicht lange um den heißen Brei reden, ist flüssiger Stuhl. Aber geistiger Dünnpfiff? Der ist ja wohl das ganze Gegenteil von pfiffig. Und warum nicht Dickpfiff, wenn so einer wie Otto mächtig dick aufträgt? Verstopfung, genau, das wäre die passende Diagnose. Obwohl, überlegt Montezuma, einer Verstopfung folgt nicht selten der Dünnpfiff. Ein riesiger Haufen Matsch im Kopf muss schließlich auch mal raus. Das ist Abfall der entsteht, wenn die Gedanken mit Verdauung beschäftigt sind: normalerweise fest und in einem Stück, aber es kann schon vorkommen, dass sich was staut, und dann brodelt es und es entstehen heiße Gase. Entzündlich. Es rumort und quackert, sackt und blubbert ordentlich und sucht einen Ausweg wie Eiter in einem Pickel. – Der Schnellkochkopf, der Dampfkessel dessen, was unser Gehirn so zu sich nimmt: in der Schule, auf Arbeit, draußen auf der Straße und drinnen im Fernsehen oder im Selbstgespräch. Und das ist nicht alles etwa leicht bekömmlich. Sobald der Ballast jedoch schön weichgekocht ist, kommt’s als Dünnpfiff wieder raus, siehe den flotten Otto. Ohne dass man es groß stoppen kann. Gratis gibt’s die abenteuerlichsten Geräusche dazu, die wir nur unterbinden können, wenn wir den ganzen Vorgang unterbinden und beide Gehirnhälften kräftig zusammen kneifen. – Daher also das Pfeifen? Ein verkniffener Arsch mit Ohren?
Wie auch immer, grundsätzlich gilt in Montezumas Vorstellungswelt: Alles was an Dünnpfiff nicht geistig ist, sondern mehr oder weniger materieller Natur, ist natürlich noch widerlicher. Und manchmal ist Ottos Hirn-Pipi, sind seine Gedanken-Verdauungs-Kotbatzen sogar ganz lustig. Aber, und das weiß sein Bruder aus leidiger Erfahrung, auch der geistige Dünnpfiff hinterlässt ein Echo, ein schmutziges Aroma, unsichtbare, giftige Absonderungen, die am Raum, in der Kleidung, an den Stunden davor und danach haften wie eine Krankheit, und die sich nicht einfach hinunter spülen lassen.

Also. Dünnpfiff darf mal sein. Aber! bitte! nicht! andauernd!
Schon gar nicht auf Montezumas Geburtstagsparty! Da möchte er nämlich in Ruhe mit Oskar, Chi, Julia und Ferdinand spielen und selbstverständlich auch bestimmen, was gespielt wird. Zuerst Handschuh-Schal-und-Mütze, klar, er ist ja das Geburtstagskind, und später dann vielleicht Stuhltanz, … und und und und UND: auf flüssigem Stuhl kann man schließlich nicht sitzen!
Gerade hat Papa die Kinderbowle auf den Beistelltisch unter die Girlande gestellt, da kommt Otto, diese fiese kleine Scheißhausfliege angeschwirrt und ruft: »Ey, in meinem Zimmer ist voll die Massenkeilerei von Blattläusen!«
Papa flitzt ab, weil er eine wohnungsweite Epidemie unter den Zimmerpflanzen befürchtet; ganz besonders bangt er um seinen Bonsai. Otto aber nimmt flott die Bowle in Beschlag und fängt an, betrunken zu spielen: »Pi pa po, in meim Po da sitzt’n Floh. Und wenna da nich sitzn kann, dann sitzta in meim Pullermann.«
Kicher kicher. Auch die anderen Geburtstagsgäste bekommen von Otto Bowle eingeschenkt, während er mal Verbeugungen macht wie ein Diener, mal aufhüpft wie von einer Tarantel in den Hintern gestochen.
»Schmäckds?« brüllt er plötzlich. »Habich selbs rein … habich selbs jemachd: bisschn Blumwassa, bisschn Bonsaidünger. Un natürch –« Jetzt torkelt er, mit Schlagseite in den Hosen. »– schönn Schnabbs!«
Alter!, denkt Montezuma und kleckert sich vor Schreck Bowle aufs Hemd. Der absolute vollkrass Obermega-Dünnpfiff! Das geht ja wohl gar nicht! Schon hat er sich den Bruder gekrallt, um ihm deutlich und mit Nachdruck ins Gesicht zu sagen, er solle doch gefälligst in die Ecke gehen und Baum spielen.
»Hau ab! Geh kacken!« O-der so ähnlich. Irgendwie war das jetzt ziemlich grob formuliert. Gar nicht geschmeidig. Wobei aber auch Dinge, die mit einem geschmeidigen oder schmierigen Film versehen sind – säuselnde Worte, gereichte Hände oder heilsame Zäpfchen – dann doch brennen und scharf wirken können. Also drauf gesch…
Der flotte Otto hat sich wieder losgemacht und pfeift ›eingeschnappte Leberwurst‹. Und die Geburtstagsgäste finden’s auch noch lustig! O Gott ist das peinlich, denkt sich Montezuma. Wenn er sich einfach abseilen könnte, oder in eine Sickergrube fallen und dort verrotten … Aber er wird sich doch wohl nicht selbst ein Ei legen und den Dünnpfifferlingen und Gülleschwätzern das Feld überlassen wollen? Am Ende ist noch sein Zimmer und die ganze Feier geflutet vom Fäkalsabber des berauschten Bruders! – Erwachsene, das hat Montezuma neulich ihren Gesprächen abgelauscht, kommen manchmal nach übermäßigem Alkoholrausch in den Dünnpfiff-Modus. Jedoch nicht schon während des Trink… A-bär Moment mal! Das ist DIE Idee …

Otto hat inzwischen Alarmstufe Braun ausgerufen, was bedeutet, dass er in Sachen geistiger Dünnpfiff zu Hochform aufläuft. Na ja, eigentlich ist es eher das Gegenteil, nämlich völliger Formverlust: Ein sämiger Brei, der jede Grenze ignoriert. Eine ölige, unregelmäßig dunkle Soße, die sich hemmungslos verteilt und überall unschöne Flecken hinterlässt. Frei nach dem Motto „der Clown ist die wichtigste Mahlzeit des Tages“ versprüht der Bruder nun das verstoffwechselte Endprodukt. Grützwurstartiger Auswurf von unzuverlässiger Beschaffenheit und zweifelhaftem Witz hinterlässt Streifspuren auf der Feierlaune der Kinder und zieht Sprenkel von Verwirrung, später irrer Begeisterung über die Gesichter. Der flotte Otto wird indes nicht müde und presst unglaubliche Mengen pürierter Darmpastete aus den Windungen seines Hirns und jagt einen Torpedo nach dem andern ins Rohr!
Vom Hochbett der lehmcremefarbene Plüsch-Schimpanse beäugt das Affentheater, während Montezuma nicht mehr hofft, dass es mit dem Stuhltanz noch klappen könnte. Das ist auch kein flüssiger Stuhl mehr, stellt er verzweifelt fest, sondern Sprühstuhl oder Sturzstuhl. Offensichtlich hoch ansteckend, wenn man Ottos Dünnpfiff-Anfälle nicht gewohnt ist, denn schon hat die anderen Kinder das Fieber, die pure Lust am Sauen und Suhlen gepackt. Oskar verteilt ungeniert schlecht gekauten Schokokuchen auf dem Kipplaster und glaubt, diesen jetzt in die Kläranlage transportieren zu müssen. Chi wiederholt ununterbrochen Ottos geistiges Arschgulasch und stochert mit dem Finger im Aa wie einer, der mal kosten möchte. Sogar Julia ist der Ansicht, dass auch Prinzessinnen pupsen dürfen – was sie sogleich sattsam zum Besten gibt, und was das Raumklima mit dem penetranten Muff nach Fischkadaver keinen Millimeter aufwertet –, während der lehmcremefarbene Plüsch-Affe mit einem Schal am Bettpfosten erhängt und in den letzten Zügen seines Lebens von Ferdinand mit einer Würgegeräusch-Sinfonie ausgiebig vertont wird.
Ganz toll! Eine Tollwut-Epidemie haben wir hier, denkt Montezuma. Eine ani…kalische …kolikische, eine analische Tollwut. Und er fürchtet, in der Jauche zu ertrinken, so erfüllt ist die Luft von den Jauchzern und den madigen Rülpsern der Bande, die keinen Stuhl und auch keinen Schemel mehr im Oberstübchen stehen hat. Mama und Papa lugen verwundert zur Tür hinein, wobei Mama den Papa ansieht, als habe er wirklichen Alkohol in die Kinderbowle getan.

Armer Montezuma … Doch seine Rache naht!
Es dauert nicht lang, da wird Otto verdächtig still. Woher das wohl kommt? Ein Zuckerschock vielleicht? Hat er was Falsches gegessen oder ist etwa doch die mysteriöse Kinderbowle Schuld?
Fast. Montezuma hatte heimlich und nebenbei ein Getränk aus Bowle, Spülwasser und dem Saft eines vergammelten Pfirsichs aus der Brotbüchse von letzter Woche gemixt, den der Bruder in seinem Wahn sich in die Kehle gekippt hatte wie ein altes Hausmittel gegen Mandelentzündung. So kommt’s, dass der flotte Otto jetzt plötzlich ausscheidet, sich den Bauch hält und schleunigst zum Durchmarsch Richtung Bad ansetzt, um dort, von der Flitzeritis-Seuche heimgesucht, das Klo notdürftig mit einem Frikassee aus Kuchen und gepanschtem Gesöff zu beschenken. Montezuma lässt es sich nicht nehmen, vor dem Bad zu lauschen, wie sein Bruder sich über den Hinterausgang erbricht und das große Latrinum auf die jungfräulich weiße Emaille der Toilettenschüssel schreibt. Ein rechtes Emailheur, ein grand malheur de kack!
Und mittendrin im Geplatsche und Gebrüll, steigt ein feineres, beinahe nobles Geräusch auf: Hell und ausdauernd, als ließe jemand über ein ausgelutschtes Mundstück allmählich die Luft aus einem aufgeblähten Ballon. – So so, denkt Montezuma: Dünnpfiff! Mit dem Lächeln eines aztekischen Götzen. Von nichts durchdrungen als vom langen Atem der Zeit.

Wort und Text: Mathias
 

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