Kontrast

| Lesealter: ab 11 Jahre |

Es ist Familienfeier: Die Cousins und Cousinen werden dem Alter nach in einer Reihe aufgestellt. Zwischen deiner großen Schwester und der noch älteren Cousine liegen ein Jahr Erfahrungen und zwei ganze Kopflängen.
»Was für ein Kontrast!« sagst du, als du einen Blick auf das Foto erhaschst. Deine Schwester guckt dich böse an.
Auch dass Onkel Walther findet, dass alle Generationen zu allen Zeiten die Pflicht hätten, für solche Fotos zu posieren, deine Schwester aber denkt, das sei Kinderquälerei und gehöre verboten, ist ein Kontrast.

Ein Kontrast ist zunächst einmal eine Idee. Die Idee davon, dass Dinge nicht nur unterschiedlich sind, sondern gegensätzlich. Als wären sie entgegengesetzte Ausprägungen einer Eigenschaft. So wie hell und dunkel, kalt und heiß, jetzt und bald usw. Eckig und rund sind auch ein Kontrast, oder Schwarz und Weiß, l a u t und leise, klein und GROSS, lawede und fest, oder ein Wunschtraum in Watte und die sogenannte harte Wirklichkeit.
Nun entsteht der Kontrast nicht dadurch, dass irgendwo auf der weiten Welt ein sehr schmaler Mensch und irgendwo anders ein sehr breiter Mensch herumlaufen. Erst wenn beide Gestalten nebeneinander auf der Bühne stehen, wird der Gegensatz sichtbar. Oder ein sehr glücklicher neben einem sehr unglücklichen Menschen. Die beiden Extreme Freud und Leid werden nebeneinander noch mitfreudiger und noch mitleidiger. »Hey! Na? Was machen wir jetzt?« »Ach hör mir auf mit deiner guten Laune, ich hab zu gar nichts Lust!«
Als Idee ist der Kontrast also nur existent, wenn wir oder irgendeine andere Person etwas als Kontrast empfinden. Dafür müssen zwei gegensätzliche Dinge aber gleichzeitig vorhanden sein. Oder man stellt einen Kontrast durch einen Vergleich her: »Was schätzen Sie, wie viele Menschen in Deutschland nicht wirklich lesen und schreiben können? Weit gefehlt, es sind 6,2 Millionen! Das sind so viele Menschen wie alle Einwohner von Berlin, Hamburg und Leipzig zusammen!«

Eine Ameise neben einem Elefanten ist beispielsweise ein deutlicher Kontrast: klein und feingliedrig, groß und kompakt. Die unscheinbare Ameise aber kann das 40‑fache ihres eigenen Gewichts tragen, der Elefant nur die Hälfte. Das ist ein anderer Kontrast. In diesem Fall einer, den man nicht sofort sieht, weil er erst durch den Vergleich entsteht. Es ist sogar sehr unwahrscheinlich, dass Ameise und Elefant je im Gewichtheben gegeneinander antreten. Der Kontrast ist hier eine pure Idee.
Wenn du dir keinen Wettstreit zwischen Ameise und Elefant vorstellst, gibt es den Kontrast nicht. Wenn du nicht hinsiehst, und hinter dir zufällig eine Galaxie in Kürbisform mit einem Seepferdchen Walzer zu einem Song von Nirvana tanzt, dann ist das auch kein Kontrast. Es sei denn, du stellst dir das vor.

Viele Gegensätze springen sofort ins Auge: Wenn man aus einem dunklen Kinosaal ins gleißende Sonnenlicht tritt, eine Krähe im Schnee, eine Oase in der Wüste, ein Greis mit einem Baby im Arm, ein Bettler vor dem Delikatessenladen. Das ist ein Unterschied wie Tag und Nacht, sagt man. Eben weil es ein auffälliger Gegensatz ist.
Mit anderen Kontrasten ist es schwieriger. Wer außer mir bemerkt den Kontrast, wenn ich bei schönem Wetter mit großer Traurigkeit im Herzen meinen Tag umbringe? Und was ist mit Kontrastprogramm? Wenn es den ganzen Tag schneit, bekomme ich Lust, in Badehose ein Eis zu essen und einen Film über Piraten in der Südsee zu schauen.
Sind Geschwister, die einzeln sehr ihren Eltern ähneln, wenn man sie nebeneinander erlebt aber unterschiedlicher nicht sein könnten, ein Kontrast? Ist eine Daunenfeder auf einem Amboss schon ein Kontrast? Wohl doch nur, wenn du einen Schritt weiterdenkst und dir Gedanken über die Eigenschaften und Zwecke von Feder und Amboss machst. Bewertest du das Kontrastpaar dann schon? Was gefällt dir besser: das weiche Kissen oder der kräftige Schlag mit dem Schmiedehammer? Oder gefällt dir einfach nur der Kontrast?

Grasbüschel in einem Gehwegpflaster
Ein schöner Kontrast? | Bild: Pixabay

Letztens kamst du abends aus der Wanne und solltest dir die Haare föhnen. ›Eine der langweiligsten und sinnlosesten Sachen der Welt‹, dachtest du mürrisch, als ein Freund deiner Eltern zur Tür reinschaute: »Na, machste dir ne fesche Sturmfrisur?« Du schautest ihn nur fragend an. »Mach ich mir manchmal, auf dem Fahrrad. Also im Sommer meist. Ich wasch mir die Haare und radel mit den nassen Haaren eine Runde um den Block. Und dann hab ich so ne geile Föhnfrisur«, sagte er und tippte sich an die eine letzte Locke, die er noch hatte. Das war schon ein sehr seltsamer Kontrast dieser Moment!
Nicht besser Tante Maria neulich: »Mein kleines … mein kleines …« Sie wollte dich mit einem ganz besonderen Kosenamen beschenken, kam aber nicht auf das richtige Wort. »Mein kleines Cappuccino-Äffchen! Oder wie heißen die?«
»Pavian-Arsch!«, entfuhr es Mama. Alle guckten betreten auf den Kaffeetisch, bis Tante Maria sich mit Porzellanfingern die Kaffeekanne griff.

Fragt sich noch, wofür die Idee vom Kontrast gut ist?
So völlig ohne Kontraste wäre die Welt sicher sehr langweilig und gleichförmig, eine fade Suppe aus Harmonie. Kontraste bringen die richtige Würze rein, sie erzeugen Spannung, sie spannen das Netz der Vielfalt aus. Darum sagt man, dass Gegensätze sich anziehen, oder?
Durch Gegensätze lernen wir, uns in der Welt zu orientieren: Oben und Unten, Nord und Süd, Links und Rechts, Groß und Klein – sogar Richtig und Falsch und Gut und Böse … Das ist ein Problem, dass Kontraste nicht einfach immer neutral sind. Ideen neigen eben dazu zu werten. Aber wer sagt denn, dass Jung, Reich und Schön besser ist als Alt, Bitterarm und Gebrechlich? Die Gegensätze können scharf und beißend sein, sie können verletzen und mit Absicht benutzt werden, um zu verletzen.
Es wird ja auch viel zu viel mit Kontrast gearbeitet, gerade weil die Idee so einfach ist. Berühmte Paare aus Film und Unterhaltung sind mit Absicht kontrastreiche Typen: Dick und Doof oder Asterix und Obelix zum Beispiel, die Schöne und das Biest, David und Goliath, das kleine drahtige Äffchen und der große tapsige Bär.
Auch Vorher-Nachher-Gegenüberstellungen sind beliebte Kontrastmodelle: das zerfallende und das renovierte Haus, die Wäsche ohne und mit dem neuen Waschmittel, Luftaufnahmen der Stadt vor und nach ihrer Bombardierung im letzten Krieg …

Unter Kontrastologinnen und Kontrastologen sind das aufdringliche, effekthaschende Kontraste, die schnell auf etwas hinaus wollen. Etwas, das du einfach verstehen und Meinung dazu annehmen sollst.
Vielleicht muss man dem Kontrast mal die kalte Schulter zeigen. Wegen eines Kontrasts machst du dich doch nicht heiß!
Schon dem Wort kann man nicht trauen. ›Kon‹ klingt so schön geschmeidig, nach gemeinsam und zusammen. ›Trast‹ hingegen klingt geschnitten scharf, getrennt. Die wirklichen Wortbestandteile sind aber: ›contra‹ und ›stare‹, entgegen stehen.

Kontrast oder nicht - optische Täuschung
Kontrast oder nicht – optische Täuschung

Das Spannende ist, dass andere Ideen sagen, dass es gar keine Gegensätze gibt. Ein Quantenkontrast quasi! Dann kann man der Idee des Kontrasts getrost ein wenig misstrauen. Es ist doch im Universum sowieso nichts dem anderen genau gleich, überall sind Unterschiede zu finden. Doch Unterschiede sind noch keine Gegensätze. Man kann Gegensätze aus ihnen machen, wenn man unbedingt möchte, aber wozu? Gegensätze grenzen nur aus und schüren Zwietracht.
Du kannst dich auch entscheiden, die Gemeinsamkeiten zu sehen. Dann werden die Kontraste sehr schnell weniger scharf und unüberwindlich. Weise sind die, die zwischen Schwarz und Weiß alles zu sehen vermögen!

Wort und Text: Mathias

 

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