Klischee

| Lesealter: ab 7 Jahre |

Stell Dir einen Indianer vor. Wie sieht der aus? Hat er langes, blauschwarzes Haar, eine Hakennase und durchdringende Augen, die in der Prärie bei flirrender Hitze noch auf 20 Kilometer Entfernung einen Haufen Kojotendreck erkennen können? Ja? Ach, und Federn hat er auch auf dem Kopf, natürlich. Eine Krone aus den Schwanzfedern des Runzelzeh-Breitkropf-Geiers ziert sein Haupt. Weil der Geier nämlich sein Totem-Tier ist, auf dessen Schwingen bei Nacht seine Seele um die Tafelberge und über Canyons kreist und mit den Ahnen und dem großen Geist Zwiesprache hält. Im Gesicht hat unser Indianer nicht nur die Kriegsbemalung, sondern auch eine üble Narbe, die er sich im Messerkampf mit Zerzaustes Frettchen um die Stelle des Häuptlings zuzog. Außerdem trägt er eine Hose mit Fransen, ein bunt besticktes Hemd aus Bisonleder und am Gürtel Tomahawk, Friedenspfeife und die Skalps getöteter Bleichgesichter, die in ihrer Gier nach Gold und Land in seine Jagdgründe eingedrungen waren und dem friedlichen, naturliebenden Indianervolk das Leben schwer gemacht hatten. Wenn der Indianer seine Donnerbüchse in die rechte Hand nimmt und sich mit der Linken vorm Mund herum wedelt, macht er – ganz typisch: Hu-hu-hu-hu-hu!

Ich darf vorstellen: Häuptling Sandige Erdbeere. Seit Zerzaustes Frettchen bei einem Zweikampf ehrenhaft verstarb, der Letzte vom stolzen Stamm der Käsefüße. Und Häuptling Sandige Erdbeere ist ein Klischee.
Ein Klischee ist ein Bild, das wir von etwas haben, eine allgemeine Vorstellung davon, wie etwas oder jemand zu sein hat. Aber diese Vorstellung trifft vielleicht nicht mehr zu. Oder sie ist ganz schön übertrieben. ›Aber wieso denn?‹, fragst Du vielleicht. Der typische Indianer trägt doch Federschmuck, oder? Und selbstverständlich hat der typische Indianer auch so an die Dreiund-zig Bleichgesichter skalpiert, nicht wahr? Außerdem kann er gut mit Pferden und, ganz wichtig, das mit dem Schleichen. Richtig gut schleichen. Und was ein echter Indianer ist, kennt keinen Schmerz. Kannst ihm ja mal vors Schienenbein treten, dem Häuptling Sandige Erdbeere.
Aber so einfach ist das nicht. Klar sind sich Indianer irgendwie ähnlich, so wie sich Asiaten irgendwie ähnlich sind, Afrikaner oder eben Deutsche und Niederländer. Aber gleich sind sie bestimmt nicht, schaut man genauer hin. Das Klischee ist ein Bild, bei dem wir dem einen Indianer alles angezogen, angehängt und eingegeben haben, was wir typisch für alle Indianer halten. Dabei haben wir beispielsweise vergessen (oder einfach weggelassen), dass Indianer noch gar nicht mit Pferden konnten, bevor die Bleichgesichter auftauchten, weil es davor keine Pferde in Amerika gab. Dafür gab es aber damals schon viele verschiedene Indianer, eine Vielzahl von Kulturen, Sprachen und Lebensformen. Zugegeben, viele trugen Federn in den Haaren, manche jagten Büffel und lebten in Tipis. Andere jedoch hatten Hüte aus Stroh, bauten Mais an und wohnten in Häusern aus Lehmziegeln. Und wieder andere machte sich verrückte Frisuren, die berühmten Irokesen, und bauten Holzhäuser am Waldrand. Heute leben die meisten Indianer wie Du und ich. Sie ziehen Jeans an, setzen sich ein Basecap auf, arbeiten als Feuerwehrmann oder Krankenschwester und gehen am Wochenende ins Kino. Federhaube, Kriegsgeheul und Büffeltanz gibt’s im Film oder extra für Touristen, die endlich mal einen ›echten‹ Indianer sehen wollen. Und unser Häuptling Sandige Erdbeere hat sich die Narbe im Gesicht nicht bei einem Kampf zugezogen, sondern als Kind, als er beim Tischdecken in seine Schwester gerannt ist, die gerade das Besteck aus der Küche brachte.

Der typische Indianer? Sorry, aber den gibt es nicht. Fragen wir stattdessen doch mal den Häuptling Sandige Erdbeere, wie er sich den typisch deutschen Jungen vorstellt. Ist doch logisch, meint der. Der Bengel trägt Lederhosen, kann jodeln, erteilt seinem Schäferhund zackige Befehle und hat schon mit fünf Jahren ordentlich Biertrinken gelernt. Im Vorgarten stehen niedliche Zwerge und im Wohnzimmer hängt die Kuckucksuhr. Alle Mädchen in seiner Klasse heißen Heidi, außer Sabine, die heißt Brigitte. Und morgens, wenn er pünktlich um 5 Uhr 17 aufsteht, tritt er als erstes auf die Bergwiese, um sich direkt aus der Kuh ein frisches Glas Milch zu melken …
Äh?! Geht’s noch? Das haut nicht so richtig hin, stimmt’s? Selbst für bayerische Verhältnisse. Unser Häuptling hat da ganz offensichtlich ein Klischee im Kopf, eine Vorstellung, wie Deutschland und ein deutscher Bub zu sein haben. Teilweise ist so ein Klischee wie ein Vorurteil: alle Deutschen sind pünktlich, die Polen klauen angeblich, den Franzosen guckt immer ein Froschbein aus dem Mundwinkel. Mädchen können nicht Fußball spielen und Jungen bekommen einen Knoten ins Gehirn, sobald sie mehrere Dinge gleichzeitig tun sollen, Frauen sind schlechte Autofahrer, Männer können ihre Gefühle nicht zeigen … und so weiter. Andererseits ist ein Klischee auch das, was man erwartet, weil wir alle diese Vorstellung kennen. So kann man ein Klischee auch ›bedienen‹, also die Erwartungen erfüllen: Wenn ich um 12 Uhr Mittags in eine Rocker-Kneipe stolpere, dann erwarte ich nicht nur heiße Motorräder vor der Tür. Ich will dicke Typen mit Bierbäuchen und wilden Bärten sehen, die sich mit anderen Rockern prügeln und dabei von Bräuten in Lederjacken angefeuert werden! Ich will … aber halt. Will ich das wirklich? Na, jedenfalls würde diese Szene dem Klischee entsprechen.

Woher stammt jetzt aber unser Klischee vom typischen Indianer? Mir fallen da als erstes Bücher und Filme ein, die ich früher verschlungen habe. Lederstrumpf, die Söhne der Großen Bärin und natürlich Winnetou. Winnetou und seinen Blutsbruder Old Shatterhand haben wir dem Schriftsteller Karl May zu verdanken. Karl May war nicht nur ein großer Schreiber spannender Geschichten, in denen die Indianer immer die Edlen und Guten sind. Er war auch ein großer Schwindler, denn der Schlawiner tat jahrelang so, als habe er sämtliche Abenteuer im Wilden Westen selbst erlebt, dabei betrat er Amerika erst lange nachdem er sich seine Geschichten um den Apachen-Häuptling ausgedacht hatte. Und wenn er selbst nicht da war, woher hatte dieser Karl May dann sein Indianer-Bild? Ich will’s verraten: Aus dem Lexikon, aus der Zeitung, aus Reiseberichten und aus Büchern.
Genau daher kommt nun aber das Wort ›Klischee‹. Also nicht von Karl May, aber aus dem Buchdruck. Es ist ein französisches Wort (cliché, mit oder ohne Froschbein im Mund einfach ›Klie-scheh‹ ausgesprochen), heißt übersetzt ›Nachbildung‹ oder ›Schablone‹. Ursprünglich bezeichnete man damit stempelartige Formen für Motive oder Bilder, die für den Druck von Büchern oder Zeitungen verwendet wurden. Sollte zum Beispiel der Anfangsbuchstabe vom allerersten Wort der Winnetou-Geschichte besonders groß und in Form eines Indianer-Zeltes sein, dann stellte man dafür einen Stempel (ein Klischee) aus Metall her. Mit diesem konnte man getrost 1.000 Mal und mehr den Winnetou drucken, er war praktisch immer wieder verwendbar.
Tja, und so ähnlich ist das ja auch mit unseren Vorstellungen und Meinungen, zum Beispiel vom pünktlichen Deutschen oder vom typischen Indianer. Es sind abgedroschene, immer und immer wieder verwendete Bilder und Meinungen. Stempel, könnte man sagen, die wir ›dem Indianer‹ aufdrücken, Schablonen, wie wir über Rocker und Gartenzwerge denken. Auf diese Weise ist das Wort ›Klischee‹ als Fachwort aus der Drucktechnik in unsere Alltagssprache gewandert und hat seine Bedeutung ein bisschen verändert. Aber nur ein bisschen. Und es ist gut, wenn wir merken ›Ah, hier haben wir ein Klischee!‹, wenn wir uns selbst ab und zu beim Schablonen-Denken ertappen. Dann können wir vorgefertigte Meinungen und 1.000 Mal wiederholte Bilder hinterfragen.

Und noch etwas: Beim Druck wird die Druckplatte oder eben der Stempel erst mal richtig schön mit Farbe eingekleistert. Bringt man das dann aufs Papier, hören wir dabei ein klatschendes Geräusch. Ein Geräusch, das ungefähr so klingt, wie wenn Du laut das französische ›cliché‹ oder das deutsche ›Klatschen‹ aussprichst. So gesehen ist unser Klischee-Indianer nicht nur eine Nachbildung, eine Allerwelts-Kopie, sondern geradewegs ein Abklatsch dessen, was ›echte‹ Indianer wirklich sind und waren.
Ui, hoffentlich hat Häuptling Sandige Erdbeere das nicht gehört! Sonst gräbt er doch noch das Kriegsbeil aus. Ich seh‘ ihn schon in Lederjacke auf der Kuh Heidi angeritten kommen. ›Hu-hu-hu-hu-hu!‹ jodelt er und will mir eine klatschen oder mir vors Schienenbein treten. Vor Empörung ganz bleich im Gesicht.

Wort: vorgeschlagen von Meister-x aus Bernau bei Berlin, 10 Jahre, Lieblingswort „Schnullerbacke“
Text: Mathias
 

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