Echo

| Lesealter: ab 8 Jahre |

Achtung, dies ist eigentlich eine traurige Geschichte! Sehr traurig. Aber von einer so schönen Traurigkeit, dass mir immer ganz warm ums Herz wird, gerade wenn es zerspringen und ein Meer von Tränen freilassen will. Kann man dann drin baden, in einem Meer aus Traurigkeit. In warmen, ruhigen und sehr tiefen Wogen.
Außerdem ist Traurigsein ja nichts Schlimmes, im Gegenteil. Trauer hilft uns Abschied zu nehmen, von Menschen, von Gegenständen, von Wünschen oder Vorstellungen. Dinge, von denen man Abschied nehmen muss, die unerreichbar, unumkehrbar, zu schwer für uns geworden sind. Hinterher fühlt man sich viel leichter. Und manchmal – so sind wir Menschen – trauern wir gerne, auch und gerade um Sachen, die uns so gut wie ziemlich gar nichts angehen, und wir fühlen uns dann trotzdem leichter. So wie bei der Geschichte vom Echo. Aber ich will versuchen, sie nicht allzu traurig zu erzählen. Oder aber extra traurig, das wird sich zeigen.

Das Echo kennt jeder. Ein Echo gibt es zwischen Hochhäusern, auf einem See, am Waldrand, in Bergtälern und vielleicht auch in einem Schnurtelefon. Wenn wir ihm lustige Sprüche zurufen, zum Beispiel »Wie heißt der Kaiser von Wesel?« dann ruft das Echo zurück: ›Esel!‹ … Oder »Was essen die Studenten?« – Na? …
Die wenigsten wissen aber, dass das Echo einst eine Frau gewesen ist. Ganz recht, ein hübsches Mädchen aus Fleisch und Blut, das sang und tanzte, das Wünsche in seinem Herzen trug und gerne jene in die Arme nahm, die ihm lieb waren.

In ferner Vergangenheit, als die alten Griechen begannen, die Erde mit klugen Gedanken zu erobern, und die alten Römer mit ihren Soldaten und Schiffen und Straßen, da stellten sich die Menschen vor, die ganze Welt und das Leben sei von etwas Magischem durchwebt. Geheimnisvolle Kräfte und rätselhafte Wesen bewohnten die Erde, flüsterten zu unseren Seelen und teilten sich mit uns das großartige Auf und Ab und Hin und Her des Lebens. Da gab es große und kleine Götter, die Großen für die wichtigen Sachen wie die Liebe, den Krieg oder das Leben nach dem Tod, die Kleinen für weniger wichtige Dinge, zum Beispiel für den eisigen Nordwind, der einem die Wärme aus den Gliedern zieht, das milde Licht des Südens, das Herdfeuer oder das Ehrenwort, dass Sohnemann dem Papa gab, als er versprach, gut auf die Schafe aufzupassen. Daneben sprangen Superhelden wie Perseus oder Herkules durch alle Weltgegenden, vollbrachten übermenschliche Taten und hackten feuerspeienden Ungeheuern die Köpfe ab (zumal diese Ungeheuer meist mehrere Köpfe besaßen). Zum Lohn für ihre Heldentaten wurden sie in Sterne und Sternbilder verwandelt, die noch heute ihre Namen tragen.
Und selbstverständlich – so glaubten die Menschen damals und viele tun es noch heute – selbstverständlich war auch die Natur von den vielfältigsten Geistern und Kräften bewohnt. Besonders jene Orte, die uns durch Schönheit oder Wildheit verzaubern, erstaunen oder gar gewaltig erschrecken: Eine tiefe, düstere Höhle, aus der uns das Atem des Berges kalt entgegen schlägt. Ein uralter Stein, in den die Zeit seltsame Zeichen gegraben hat. Ein knorriger Baum, aus dem uns Gesichter anstarren. Eine Lichtung im Wald, auf die wir kaum einen Fuß zu setzen wagen, aus Furcht, das wunderbare Spiel von goldenen Sonnenstrahlen und Schmetterlingsschwärmen über dem Duft von Blumen, Moos und Pilzen zu stören. Oder waren’s keine Schmetterlinge, sondern Feen, die ihre Köpfe in die Blüten steckten? War es wirklich der Gesang von Vögeln und das Schwirren von Insekten, oder hatte hier ein Waldgeist auf der Flöte gespielt? War da ein Reh ins Gebüsch gehopst, oder ein kleines, nackiges, wohlgenährtes Kind mit schneeweißen Flügelchen auf den Schultern? Mhm …
Die alten Griechen und Römer glaubten damals auch, dass tief im Wald launische Gesellen hausten, halb wie ein Mensch, aber mit zottigen Ziegenbeinen und Hörnern auf der Stirn. Diese Kerle faulenzten in der Mittagshitze oder scheuchten zum Spaß Tiere auf und erschreckten Wanderer. Oft feierten sie rauschende Feste und kippten dabei den Wein nur so in ihre Hälse, dass sie nach kurzer Zeit ganz außerordentlich besoffen und zu jeder Dummheit imstande waren. Weniger wild, nicht ganz so unerzogen, in jedem Fall aber hübscher anzusehen waren die Nymphen. Auch sie liebten die Musik, das Feiern, kleine Neckereien und harmlosen Schabernack, aber sonst waren sie eigentlich hilfsbereite und lebensfrohe Mädchen. Manche von ihnen wohnten in heiligen Bäumen und halfen den Dichtern und Sängern die richtigen Worte zu finden, wenn diese durch die Zweige ins Sonnenlicht blinzelten und von grandiosen Heldenliedern träumten. Andere lebten wie Nixen in Seen und Bächen, ließen sich von kleinen Fischen die Haare kämmen oder lagen im Schilf am Ufer und bewachten die Quellen. Manchmal, so erzählte man, retteten sie Ertrinkende, halfen Kranken mit Heilkräutern oder zeigten Leuten, die sich im Sumpf verlaufen hatten, den Weg. Als Dank warfen die Menschen Geldmünzen in die Quellen und Teiche. Ein Brauch, den es bis jetzt gibt, auch wenn viele nicht mehr wissen warum und einfach behaupten: ›Bringt halt Glück!‹

All diese Götter, Geister und Halbwesen jedoch, so dachten sich das die Griechen und Römer, teilten die Erde und das Leben mit den Menschen. Nicht so, wie wir uns heute Gott, Allah oder Buddha vorstellen, allwissend und allmächtig, eine Seele, die das ganze Universum umfasst. Nein, die Götter der Alten Welt waren den Menschen – bis auf das Ding mit der Unsterblichkeit – sehr ähnlich. Angeblich lebten sie oft mitten unter uns, hin und wieder bekam einer sie zu Gesicht. Man konnte sie anfassen, sich in sie verlieben und sogar Kinder zusammen bekommen. Und genau wie die Menschen waren die Götter nicht ohne Fehler. Genau wie wir waren sie verspielt, töricht, rachsüchtig, leidenschaftlich, glücklich und manchmal traurig. Der Eine wollte immer Bestimmer sein, der Nächste zettelte andauernd Streit an, die Dritte konnte nicht ertragen, wenn sie nicht die Schönste war. Und genau wie wir Menschen hatten die Götter und Geister auch ein Schicksal. Ihr Leben und Wirken beschritt einen Weg, ihre Entscheidungen und die bunten Zufälle drumherum ergaben Geschichten. Geschichten, die von einem Anfang auf ein Ende zustreben und die man sich damals erzählte. Genau wie die Geschichte von Echo.

Echo war so eine Nymphe, so ein süßes, ewig junges Ding, das die sanften Hügel und grünen Täler sein Zuhause nannte. Ein reizendes Mädchen mit wachen Augen, das nach Lust und Laune durch die Wälder und Gebirge zog, sich auf blühenden Lichtungen zeigte und des Mittags in kühlen Höhlen schlummerte. Niemand weiß mehr genau, wann Echo geboren wurde, ob sie überhaupt geboren wurde oder wer ihre Eltern waren. Vielleicht war sie eine Tochter der Luft. Aber das war auch schnurzegal, denn Echo war eine Freude unter der Sonne. Während andere Nymphen sich nämlich ängstlich verbargen und ein großes Geheimnis um sich machten, trat Echo fröhlich auf jedermann zu und war nie um einen Schwatz verlegen, was sie bei Göttern und Menschen gleich beliebt machte. Wie stolz war sie, wenn jemand auf ihren Namen schwor! Und wie liebte sie es, stellte man ihr kleine Geschenke vor ihre Grotte, Blumen oder Früchte, Kuchen, und ganz besonders süßen Honig und Milch.
Echos Leben bestand im Wesentlichen darin, durch den Wald zu streifen und den Lauf der Dinge zu beobachten. So blieb sie bisweilen vor einem Ameisenhaufen stehen und betrachtete das Treiben. Oder sie pflückte Blumen und gab jeder einzelnen einen Kosenamen. Sie tanzte mit den Schmetterlingen und sah den Vögeln zu, wie sie Futter sammelten. Auch kam es vor, dass sie zum Spaß die Eier des Kuckucks in die falschen Nester legte oder sich heimlich an Jäger anschlich und dann sachte an ihren Bogen tippte, so dass der Pfeil sein Ziel traf oder eben verfehlte – ganz nach ihrer Laune. Wenn sie Lust dazu hatte, half sie den Schäfern ihre Herden zu bewachen oder lag einfach nur im Gras und lauschte, wie das Pochen ihres Herzens mit dem Summen der Bienen zu einem Lied verschmolz. An heißen Sommertagen planschte sie ausgelassen mit anderen Nymphen in den Bergseen und hell flossen ihre Rufe durch die schwüle Luft. Nach dem Bad kletterte sie in eine Baumkrone, suchte sich ein schattiges Plätzchen unterm Blätterdach und plauderte stundenlang mit den Baumgeistern. Überhaupt schwatze Echo sehr gerne. Aber sie konnte auch singen, ganz wunderbar singen! Sobald ihre Stimme wie ein Zauber sich über die Wipfel erhob, war es, als hielte der ganze Wald den Atem an. Und wenn sich Waldwesen oder Menschen zu einem ihrer Feste trafen, war Echo natürlich mitten unter den Tanzenden, sang im schaukelnden Reigen und strahlte das Leben mit unendlicher Freude an. Da wurde gelacht und gefeiert, getrunken und geschmaust, geneckt und geküsst, gespielt und gejauchzt! – Ein Lotterleben insgesamt, würden wir heute sagen. Nicht ohne eine Spur von Neid auf dieses Leben, so vollkommen ohne Arbeit, ohne Aufgaben, ohne Pflichten. Doch es wäre sicher keine Geschichte geworden, wäre Echos Leben auf diese Weise weiter gegangen …

So ein Lotterleben im Schlaraffenland war, wen verwundert’s, nicht nur für die Nymphen oder Menschen eine feine Sache. Häufig waren damals die Besuche des großen Jupiter im Walde, dem Chef aller Götter höchstselbst. Er hatte es besonders auf die Reize der Damenwelt abgesehen und vergnügte sich heimlich mit den hübschen Nymphen: Händchenhalten zwischen Olivenbäumen, hier und da ein Kuss an einem flüsternden Bach, alle Knuddeleien und Liebeleien, die ein aufgeklärter Mensch sich auszumalen vermag. Und das, obwohl er ein verheirateter Mann war! Nahte seine Frau, die eifersüchtige Juno, immer bestrebt, den treulosen Gatten auf frischer Tat zu erwischen, so war es stets Echo, die schwatzhafte Echo, die die Göttin in Gespräche verwickelte und sie mit ihren Plaudereien aufhielt, während sich Jupiter wie ein kleiner Junge im Gebüsch versteckte und auf eine Gelegenheit wartete, unbemerkt zu flüchten. Aber Juno war nicht dumm. ›Schon komisch‹, dachte sie, ›dass die kleine Schnattertasche Echo immer dann aufkreuzt und mich voll labert, wenn ich das Rindvieh von meinen Mann verfolge. Da stimmt doch was nicht, ich hab’s im Urin!‹ (Oder so ähnlich. Es ist ja nicht bekannt, ob die Götter überhaupt pullern mussten.) Jedenfalls entdeckte Juno irgendwann den Schwindel. Klar, sie wurde furchtbar zornig, schnappte sich Echo und sprach, ihre Wut kaum im Zaum haltend, mit donnernder Göttermacht zu der Nymphe: »Unwürdige! War dein loses Mundwerk zu verruchten Schandtaten bereit und diente deine feine Stimme dir, selbst mich, die ehrwürdigste aller Göttinnen hinters Licht zu führen, so soll ab jetzt und bis in alle Ewigkeit kein Laut nach deinem Willen deinen Lippen sich entwinden! Verdammt seist du! Wirst nur noch wiederholen können das Gehörte, wirst nur noch nachsprechen, was andere sagen, und nie mehr mit eigenen Worten reden!«
Oha! Die Göttin sprach’s und es war geschehen. Dazu wälzten sich finstere Gewitterwolken ins Tal, wie es sich für einen Fluch gehörte! Echo wollte um Verzeihung bitten, wollte wehklagen und flehen, doch versagte die Stimme ihr den Dienst. Stumm war sie und in ihrer großen Verzweiflung schlug sie sich mit den Fäusten auf die Brust. Juno lachte zufrieden und verschwand, Echo aber konnte nicht anders, als das höhnische Lachen der Göttin zu wiederholen – »Ha, ha, ha!« – obwohl ihr doch zum Weinen zumute war.
O welch böses Schicksal hatte, welch bittere Strafe hatte Echo da ereilt! Wie sollte sie sich nun mit den Steingeistern unterhalten, wie mit den anderen Nymphen schwatzen? Wie sollte sie jemanden liebevolle oder tröstende Worte zu raunen? Und wie … wie sollte sie nunmehr singen? Singen! Dies schien ihr das Schlimmste zu sein; dass sie nie wieder würde singen können.
Nur schweren Herzens ertrug Echo diese Pein. Betrübt sah man die Schöne fortan am Rande der Wiesen sitzen. Statt auf fröhlichen Festen zu tanzen, saß sie traurig bei den versteckten Quellen, hielt die Füße ins Wasser und manchmal, da fiel eine stille Träne von ihrer Wange herab in den Teich. ›Pitsch‹ machte es, und »Pitsch« wiederholte Echo, doch eigentlich wollte sie einen langen Seufzer ausstoßen. Wanderer und Jäger begegneten ihr immer seltener, und rief man ihr etwas zu, so rief sie das Gleiche zurück und verschwand voll Scham im Dickicht.

Ein Unglück kommt selten allein, heißt es doch. Das mag daran liegen, dass uns von den Zufällen die unglücklichen am ehesten auffallen und am deutlichsten in Erinnerung bleiben. Es kann aber auch sein, dass traurige Seelen traurige Schicksale anziehen wie schwarze Löcher. Wer nun gedacht hat, der armen Echo sei schon genug Unglück widerfahren, der wisse, dass ihr Leidensweg noch nicht zu Ende war.
Es wird ein heißer Spätsommertag gewesen sein, als Echo einsam im Gras hockte und einem Marienkäfer dabei zusah, wie er über ihre Fingerspitzen krabbelte. Die Einsamkeit in verlassenen Gegenden zu suchen war inzwischen ihre Gewohnheit. Die Tiere sprachen nicht, und so durfte auch Echo stumm bleiben: Eine im Meer ihrer trüben Gedanken ewig Ertrinkende, weit weg und versunken, fast unerreichbar für das blühende Leben um sie herum. Doch plötzlich teilte sich in einiger Entfernung das Gebüsch und ein junger, schlanker Jäger trat aus dem Wald hervor. Atem schöpfend ließ er sich auf einem Stein nieder, legte das linke Bein übers Knie und zog sich einen Dorn aus der Fußsohle. Echo sah, wie auf seinen nackten Schultern Schweißperlen im Sonnenlicht glitzerten. Aber der hübsche Jäger rastete nicht lange; schon bald sprang er wieder ins Unterholz, um ein Reh oder einen wilden Eber aufzustöbern. Auch schien er unsere stille Echo nicht bemerkt zu haben, doch der Nymphe hatten zwei drei Blicke genügt, um in ihm Narziss zu erkennen. – Und mit einem warmen Schauer, der sie an die Ufer des Lebens und der Fröhlichkeit zurück spülte, wurde ihr klar, dass sie sich soeben unsterblich in den jugendlichen Jäger, in den Schönling Narziss verliebt hatte!
Freudig sprang Echo auf, ihr stand der Sinn nach Tanzen, Tändeln, Springen und Singen. Aber ach, allein das Singen blieb ihr verwehrt! Allerdings – es heilt die Liebe böse Wunden schneller als die Zeit, und so vergaß Echo über ihrem Entzücken, dass die Stimme ihr nicht mehr gehorchte. Ja sie vergaß sogar, dass sie singen gewollt hatte, denn ihr Herz pochte nur noch laut: ›Narziss! Narziss!‹ Eben erst war der Geliebte ihren Blicken entschwunden und jetzt sehnte sie sich schon nach ihm.

Narziss. Es gab wohl unter der Sonne kein einziges Geschöpf, das ihn an Schönheit übertroffen hätte. Er wurde vor nicht allzu vielen Jahren von einer Nymphe geboren, die ihn von einem Flussgott in einer seichten Windung des Wasserlaufs empfangen hatte. Seither wuchs und wuchs seine Schönheit und der Ruf, der ihm vorauseilte. Auch Echo hatte einst selbst Geschichten über ihn erzählt, doch jetzt, seit dem Fluch, den Juno über sie verhängt hatte, konnte sie nur noch die Gerüchte und Fabeln nachplappern, die über den Jüngling und seine sagenhafte Schönheit durch die Wälder und Berge geisterten: Als unnahbarer Herzensbrecher wurde er beschrieben, ein hochmütiger, stolzer Gockel, in den sich Menschen, Götter und Geister zu Scharen verliebten, Frauen wie Männer, und die er allesamt unbarmherzig abwies. Einmal, so erzählte man sich, habe Narziss aus purer Boshaftigkeit einem Zurückgewiesenen ein Schwert geschickt. Der Verschmähte hatte sich schließlich in seiner größten Verzweiflung direkt vor der Tür des Geliebten in die Klinge gestürzt und war elend verblutet.

All diese warnenden Geschichten aber kümmerten Echo jetzt nicht. Und je länger sie auf die Stelle sah, wo Narziss im Wald verschwunden war, um so mehr und um so heftiger verfiel sie dem Schönen. Sie konnte keinen vernünftigen Gedanken mehr fassen. Schon drohte die Sehnsucht ihr das Herz zu zerreißen, schon eilte sie dem Geliebten hinterher! Heimlich, versteht sich, denn wie hätte Echo zärtliche Worte ihrer Liebe an ihn richten können?
So durchquerten sie denn auf verschlungenen Wegen den tiefen Wald, wateten durch Bäche und kletterten über felsige Anhöhen; der Eine nichts ahnend von der liebestollen Verfolgerin, lediglich vom Jagdeifer beseelt, die Andere bangend und hoffend auf dem Pfad ihrer Sehnsucht. Erst als die Sonne sich schon tief ins Tal neigte, hielt Narziss endlich an und ließ sich unter einem großen, alten Ahornbaum nieder. Die Luft war milde geworden, der Wald geheimnisvoller, und am Himmel schwebte ein roter, herzenswarmer Schimmer. Echo lugte ängstlich aus ihrem Versteck, schlich sich noch ein Stück näher, noch näher, wollte sie doch Narziss möglichst ganz und gar aus der Nähe betrachten. Ihr wurde regelrecht schwindelig beim Anblick seiner Schönheit! Ach, wie herrlich war der Jüngling anzusehen, wie liebenswert sein Wesen, wie er dort am Stamm des Ahorns lehnte, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, wie der Atem und das Blut durch seinen Körper gingen und wie er das Schattenspiel der Blätter auf seinen Augenlidern genoss!
Vielleicht war es eine Baumnymphe, die im Ahorn wohnte und die Narziss auf die Idee brachte zu singen. Er öffnete den schönen Mund und mit einem Mal tönte ein hinreißendes Lied in die Abendstille hinein. Narziss sang, als hätte er persönlich die Gesangskunst erfunden. Und von allen Wesen, die er mit seiner Stimme bezauberte, war Echo am verzücktesten, denn jetzt konnte auch sie wieder singen! Jetzt schien ihr das Glück so nah, so greifbar nah. Eine wunderbare Melodie streichelte ihr das Herz, das gequälte, und magische Klänge befreiten ihre Stimme aus dem Kummer, in den sie sich seit jener Sache mit Juno zurückgezogen hatte. Echo sang, sie sang mit dem Geliebten zusammen, und indem sie jeden einzelnen Ton des Liedes wiederholte, war ihr, als wollte ihre eigene Stimme sich im Freudentaumel überschlagen.
Narziss aber bemerkte, dass er nicht allein war. Er brach seinen Gesang ab und fragte in den Wald hinein: »Ist jemand hier?«
»Hier«, wiederholte Echo, wagte jedoch nicht, aus ihrem Versteck zu treten. Sie bebte am ganzen Körper!
Narziss hatte sich erhoben und blickte sich nach allen Seiten um. »Wo bist du?« rief er. »Ich kann dich nicht sehen.«
»Ich kann dich nicht sehen«, wiederholte Echo und war sich nur zu bewusst, dass das eine ziemlich blöde Antwort war, zumal sie obendrein durch Zweige hindurch ihre Augen unverwandt auf den Schönen geheftet hatte.
»Hier stehe ich doch, bei dem Ahornbaum«, antwortete Narziss und dachte noch, was es für ein Zufall sei, in dieser entlegenen Gegend eine Seele zu treffen. Echo aber, die nicht anders konnte, rief ihm die selben Worte zurück. Narziss argwöhnte schon, dass hier jemand einen Scherz mit ihm treibe, denn rings um den Baum war niemand zu finden. »So tritt hervor«, rief er. »Hier an dieser Stelle lass uns zusammenkommen.«
– Nichts, aber auch wirklich absolut nichts hatte Echo je lieber und mit größerer Wonne geantwortet: »Lass uns zusammenkommen«, wiederholte sie seine Worte, sprang aus dem Gebüsch und lief dem Geliebten entgegen, um ihn endlich und unter heißen Freudentränen in die Arme zu schließen.
Doch tückisch können Wörter sein und trügerisch verheißungsvoll! Als der Herzensbrecher Narziss die Liebestolle auf sich zustürzen sah, da wich er angewidert zurück und wehrte die Umarmung ab. Ja er stieß sie schroff von sich, dass sie rücklings in einem Stachelstrauch landete! Echo war so erschrocken, dass ihr die Worte fehlten. Denn selbst wenn sie die Macht über ihre Stimme gehabt hätte, war ihre Kehle viel zu trocken und wie zugeschnürt. Narziss blickte missmutig von oben auf sie herab. Nichts, keine Liebe dieser Welt und kein Flehen konnte sein kaltes Wesen erweichen. Auch nicht die engelsgleiche Echo, die jetzt vor ihm nieder fiel, seine Füße küsste und bitterlich weinte.
»Dich würde ich nie lieben!« sagte Narziss, vernichtend, wendete sich ab und stolzierte in den Abend davon.
Nein, ganz bestimmt wollte Echo diese Worte nicht wiederholen. Denn wenn etwas ausgesprochen ist, mit Ernst und Wahrhaftigkeit, dann kann man es nicht wieder zurück nehmen. Es ist einfach da und beginnt zu wirken, unwiderruflich, endgültig. Aber Echo war dazu verdammt. Ein Lüftchen stahl ihr die Worte von den Lippen und trug sie in die Welt hinaus: »Nie lieben!« entfuhr es ihr und das tat weh. Der Schmerz war so groß, dass ihr Herz dabei mit lautem Krachen brach. Wie ein gewaltiger Donnerschlag! Und wirklich fiel gleich darauf ein ungeheurer Regen vom Himmel, wie ihn nur der Göttervater Jupiter geschickt haben konnte. Der Regen vermischte sich mit ihren Tränenbächen, tropfte durch ihr Haar und war dennoch nicht fähig, ihre Gedanken, ihre Schmach und ihren Kummer fort zu waschen.

Für die Zukunft sollte die Liebe der armen Echo nicht nur das Herz gebrochen sondern auch den Verstand geraubt haben. Ihre wachen Augen, die einst wie Herbstlaub ihre Farbe wechselten, waren Scherben geworden, hohles Glas ohne jeden Ausdruck. Wenn doch etwas in ihnen zu finden war, dann ein tiefes, bodenloses Leid, das einen in den Abgrund zog, sah man zu lange hinein. Den wilden Tieren gleich hauste Echo jetzt in den Wäldern und in unbewohnten Tälern. Oft verkroch sie sich im Sumpf und in gespenstischen Höhlen, die Haare wie Gestrüpp, die Kleidung zerfetzt. Schlaflos, ohne Appetit und völlig von Sinnen. Das ganze Elend begann schon, ihren Körper zu verzehren – so wie sie sich nach Narziss verzehrte. Denn anstatt von dem schrecklichen Schönling zu lassen, blieb Echo weiter in seiner Nähe und marterte sich die sterbenskranke Seele. Verstohlen hielt sie nach ihm Ausschau und folgte ihm, wann immer es möglich war, als ein dünner, schwacher Schatten.
Viele weitere Verliebte hatte Narziss inzwischen abgelehnt und vielen anderen Nymphen im Reigen bunter Feste ganz sinnlos den Kopf verdreht. Echo sah unzählige solcher Szenen mit an. Möglicherweise war es die Hoffnung, die allein von ihrem ehemals hübschen, lebensfrohen Wesen noch übrig war: Die irre Hoffnung, Narziss weise alle Verliebten von sich, weil er vielleicht doch, im Stillen und nur für sie, für Echo tiefe Gefühle hegte. Wer wirklich liebt, der wünscht dem Geliebten nichts Böses. Aber einer der anderen Zurückgewiesenen muss so verzweifelt gewesen sein, dass er (oder sie) schließlich wünschte, auch Narziss würde sich einmal unglücklich verlieben, ohne eine Chance, diese Liebe für sich gewinnen zu können. Und die Rachegöttin hörte die Verwünschung …

Einst befand Narziss sich wieder auf einem Streifzug durch die Wälder und unsere Echo, schon ganz mager und verhärmt, folgte ihm in einiger Entfernung. Die Luft roch nach Nadeln und frischem Moos. Leicht und betörend tänzelte der Duft zwischen den Bäumen dahin, wie eine Melodie von Flöten und Harfen. Kurz dachte Echo an die Zeit zurück, als sie selbst noch gesungen und getanzt hatte, dann dachte sie nicht mehr. Durch die Kronen der Bäume fielen Vorhänge aus Sonnenstrahlen auf ihren Pfad.
Gegen Mittag ließ Narziss sich, von der Jagd ermattet, an einer einsamen Waldquelle nieder. Der glitzernde Teich lag auf einer schattigen Lichtung und war, was weder er noch Echo wussten, ein absolut reines Wasser. Noch nie war ein Ast hinein gefallen, nie ein Blatt noch ein Insekt. Kein Vögelchen hatte aus ihm getrunken und kein Frosch sprang je hinein. Nicht einmal Regen oder Schnee erreichten die silberne Wasseroberfläche. So rein war die Quelle, dass man es kaum zu glauben vermag, und trotzdem gerade rein genug, um die überirdische Schönheit des Narziss zu spiegeln. Als der stolze Herzensbrecher sich zum Wasser beugte, um seinen Durst zu löschen, da schaute ihn aus den Fluten des Teiches ein liebreizendes, anmutiges Gesicht an. – Und was passierte dem Schönling da? Er verliebte sich in sein eigenes Spiegelbild, ohne es zu bemerken! Für Narziss war jener im Wasser einfach nur herrlich anzuschauen. Seine Lippen waren frische Blüten, seine Haut schien aus feinstem Marmor gemacht. Freundlich und neugierig blickten seine Augen aus dem Wasser zu ihm herauf und Narziss spähte ebenso zu ihm hinunter. Das seidige Haar des Anderen schien mit den Wellen zu schaukeln, durch das des Narziss strich ein kleiner Wind. Narziss musste schmunzeln und jener im Wasser schenkte ihm ebenfalls ein sanftes Lächeln. Narziss hob die Hand zum Gruß und der hübsche Andere grüßte zurück. Narziss neigte den Kopf und der in der Quelle tat es ihm gleich. Und wie sie so einander neckten und entdeckten, wurde Narziss klar, dass er dabei war, ein großes, göttliches Gefühl zu kosten: die Liebe füllte sein glühendes Herz! Um dem Anderen noch näher zu sein, beugte er sich weiter zum Wasser herunter, und da – welch glückliche Fügung! Auch jener schien mit einem Kuss die Liebe besiegeln zu wollen. Fast schon berührten sich ihre Lippen, doch was war das? Statt des Geliebten küsste Narziss das silberne Wasser und in den Wellen, in den Tiefen der Quelle verschwand der Schöne. Verzweifelt hielt Narziss nach ihm Ausschau und nach einer Weile tauchte er wieder im klaren Wasser auf. Freudig breiteten beide die Arme aus und wollten sich umschlingen, als sei es für die Ewigkeit. Allein das Wasser hinderte sie daran.
Narziss begann zu jammern und zu weinen. Wieder und wieder wollte er nach dem Angebeteten fassen und auch jener streckte sehnlich seine Hände zur Wasseroberfläche empor. Doch immer wich das Bild zurück und verschwamm in den Fluten. Wie ein lähmendes Gift breitete sich schließlich die Gewissheit in Narziss aus, dass er wohl niemals mit dem Geliebten würde zusammen sein können. Unsere Echo sah alles dumpf mit an. Vielleicht wollte sie helfen, doch war ihr Körper schon zu schwach, ihr Wille zu schlaff und ihre Wut auf das Schicksal erloschen.
Narziss versuchte unterdessen immer weiter, sein Spiegelbild zu umarmen, zu küssen, zu liebkosen, doch es hatte keinen Sinn. Entmutigt und von schwerer Pein erdrückt blieb er am Rande der Waldquelle liegen. Die Nacht kam und ein neuer Tag, viele Tage und Nächte, und der Liebeskranke verging beim Anblick seines Spiegelbilds. Er aß nicht, trank nicht, schlief nicht. Schnell welkte Narziss dahin. Erst im Augenblick des Todes erkannte er, dass er sich selbst verfallen war, erkannte endlich sich selbst und den üblen Scherz, den das Schicksal ihm gespielt hatte. »Nun sterben wir beide mit einer Seele«, sprach er zum geliebten Bild. »Leb wohl.«
»Leb wohl«, wiederholte Echo, die nah im Walde weilte. Dann schloss Narziss die schönen Augen und leblos sank sein Kopf ins Gras.
Nach dem Glauben der Griechen und Römer gelangten Verstorbene in die Unterwelt. Dort, in den Flüssen des Wehklagens und des Vergessens, so erzählte man damals den Kindern, betrachtete der selbstverliebte Narziss weiter sein Spiegelbild. Vielleicht tut er es noch heute.

Unsere Echo aber nahm Abschied von dem Toten, den sie so sehr geliebt hatte, dass sie sich selbst dabei vergaß. Die ganze Zeit über hatte sie mit ihm gelitten, ja sie hatte noch viel mehr gelitten. Wortlos, ohne Kraft und unter großer Mühe schleppte sie sich fort. Inzwischen kamen andere Nymphen, um Narziss zu begraben. Doch anstelle des Leichnams fanden sie eine schöne, gelb-weiße Blume vor, welche sich hübsch im Wasser der Waldquelle spiegelte. Da weinten sie laut und von ferne stimmte Echo in die Klage mit ein.
Auch sie sollte bald völlig dahin schwinden, die einst so Fröhliche und Schwatzhafte. Sie bestand ja nur noch aus Haut und Knochen! Den Tieren, die sie noch einmal zu Gesicht bekamen, schien das einzig Lebendige an Echo ihre Stimme, wenn sie – ob sie wollte oder nicht – dem Gesang der Vögel antwortete oder vielfach das Klopfen und Pochen eines Astes wiederholte, der in eine Schlucht gefallen war. Arme Echo! Mit dem Tod des Narziss war dem Meer ihrer Traurigkeit ein zweites hinzu geflossen. Mehr als ein Mensch, eine Nymphe oder ein Gott ertragen konnte. Und ganz tief unten, am Grund dieses pechschwarzen Meeres aus Trauer, da kauerte ihre Seele, klein und verlassen, und verspürte keine Lust mehr, auch nur irgendeinen Stein in dieser Welt umzudrehen, auch nur irgendeinen Atemzug in diesem Leben zu nehmen. Kann sein, dass sie sterben wollte, ohne Abschied, ohne einen Blick zurück. Weil aber bei den alten Griechen und Römern die Götter und Geister selten einfach so zu sterben pflegten, verwandelten sich Echos Gebeine zu Stein und blieb ohne einen Körper allein ihre schöne Stimme zurück.
Seitdem begegnet man Echo in geheimnisvollen Grotten, wo ihre Tränen von den Wänden plätschern, oder in den Bergen, wo sie Wanderern antwortet. Seitdem kann man sie am Ufer ruhiger Seen hören und manchmal auch in großen Hallen und über den Dächern der Stadt. Vor allem bei Nacht und wenn Windstille herrscht. Seit jener Zeit ertönt das Echo besonders an Orten, die von Schönheit und Einsamkeit angefüllt sind, vielleicht auch von einer Traurigkeit, die uns daran erinnert, wie groß und unendlich das Gefühl der Liebe ist. Und weil wir alle dieses Gefühl kennen, zu Menschen, Dingen, Orten und Ideen, die uns lieb sind, stimmt jene Traurigkeit uns irgendwie auch milde und froh. Denn wir wissen tief in uns recht genau, dass das Gefühl bei uns bleibt. Selbst wenn wir uns verändern und manchmal Abschied nehmen müssen. Das Gefühl gehört uns. Es ist ein Echo auf das, was unser Leben wichtig und wunderbar macht. So können wir wieder lachen, in die Welt hinaus rufen und unsere Scherze mit der hübschen, kleinen Nymphe treiben, wählen wir nur geschickt die Worte.

Idee: Publius Ovidius Naso aus Tomi, wäre jetzt 2.056 Jahre alt, Lieblingswort „amor“
Text: Mathias
 

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