vergessen

| Lesealter: ab 10 Jahre |

Eigentlich sollte diese Geschichte anders beginnen. Sie sollte sich irgendwie einschleichen und dann, von Trommelwirbeln und Donnerschlägen begleitet, mit der Sprache rausrücken. Oder war es umgekehrt? Ich weiß nicht mehr genau, wie ich mir das gedacht hatte. Es hatte mit dem kleinen Mädchen mit zu tun, das mir neulich auf der Straße entgegen kam: Gelber Schal, froschgrüne Gummistiefel mit Froschaugen, ein roter Ranzen mit leuchtenden Katzenaugen. Und mit einem Gesicht so froh wie ihre Farben, während sie ihrem Papa erklärte: »Das habe ich vergessen!« Dabei leuchteten ihre Augen, als ginge es ums Ausblasen einer mächtig gewaltigen Geburtstagstorte.

So aber beginnt diese Geschichte mit mir. Mit mir als ich klein war. Ich war lange Zeit ein glatzköpfiger und dauerbeschäftigter kleiner Mann. Eine Brille hatte ich schon vor meinem ersten Geburtstag, Haare, wenn man die dünnen, hellblonden Fusseln überhaupt so nennen konnte, wagten sich nach drei Jahren langsam auf meinen Schädel. ›Opa Hastig‹ wurde ich in der Familie genannt. Vielleicht war ich hastig, aber vergesslich war ich nicht.
Manchmal lassen kleine Kinder achtlos etwas liegen. Das liegt aber nicht daran, dass sie es vergessen. Das liegt daran, dass sie keine Lust mehr auf die Sandschaufel oder den sprechenden Teddy haben. Mit seiner aufgesetzten, industriellen Fröhlichkeit. Da würde ich als Dreijähriger auch irgendwann denken: Will der mich verkohlen?
Mal ehrlich, ich habe als Kind so gut wie nie etwas vergessen. Daran könnte ich mich erinnern. Vielleicht bin ich ein-, zweimal ohne Schlüssel von der Schule gekommen und musste auf der Treppe warten, wo das Muster des Linoleums – wenn man lange genug darauf starrte – wie Wattwürmer in Senfsoße aussah. Oder ich bin in den Hof gegangen und habe mit Robert und dem anderen gespielt. Wie hieß er gleich? So ein Stämmiger aus dem Nachbaraufgang, der schnell wütend und dann auch grob wurde.
Ich war berühmt dafür abends genau so angezogen nach Hause zu kommen, wie ich morgens zur Schule bin, ganz egal, ob dazwischen 15 Grad Temperaturunterschied lagen. Aber das war nicht das Vergessen, es war mir nur egal.

Vergissmeinnicht!
Das Schöne am Blumen Schenken ist: So lange sie frisch sind, erfreuen sie die Beschenkten und erinnern sie an uns. | Pixabay

Meine erste Erinnerung ans Vergessen hat sich mir tief eingeprägt. Vielleicht ist sie darum auch meine erste Erinnerung. Es war ein kalter und nasser Winter, meine Mama hatte mir gerade neue Handschuhe geschenkt. Nicht diese Babyhandschuhe, die mit einem Band durch die Jackenärmel hindurch verbunden sind, damit man sie nicht verliert, sondern solche, wie sie die Großen hatten. Ich war sehr stolz auf meine Handschuhe! Wir waren mit der Straßenbahn unterwegs und ich ließ mich vom Licht in den beschlagenen Fensterscheiben und vom elektrischen Auf- und Abjaulen der Bahn forttragen. Es war schwül und warm in der Bahn, die Heizkörper unter den Sitzschalen liefen auf Hochtouren. Und dann, nachdem wir aus- und in die Kälte gestiegen waren und der orange Maschinenwurm schon zwischen den Häuserblocks verschwand: »Wo sind denn deine Handschuhe!«
Ich hatte sie ausgezogen und auf meinem Sitzplatz liegen lassen. Die neuen Handschuhe, auf die ich so stolz war! Die meine Mama mir geschenkt hatte, weil sie das Vertrauen in mich gesetzt hatte, dass kein Band durch die Ärmel mehr nötig war.
Ich weiß nicht, wie man Verlust beschreiben kann. Vielleicht als ein Platz im Herzen, der nun plötzlich leer und traurig ist. Der Verlust meiner neuen Handschuhe traf mich tief, und heiß und schrecklich. (Wenn der erste Hamster verstirbt, ist das wahrscheinlich nur halb so schlimm, es sei denn, man trägt Schuld an seinem Tod.) Was schämte ich mich und ärgerte mich über mich selbst! Ich war enttäuscht von mir und nahm mir vor, in Zukunft besser aufs Vergessen acht zu geben und nichts mehr zu verlieren. Denn es machte mich und meine Mama unglücklich.

Lieder über das Vergessen – Teil 1

Seither habe ich, und das schwöre ich, beinahe nie wieder etwas vergessen oder verloren. So gut wie nie. Schlüssel, Portemonnaie, Handy, Handschuhe … alles immer da. Meinen Schlüsselbund habe ich seit 26 Jahren. Das heißt die Schlüssel wechseln natürlich mit den Wohnungen und Türen, aber das Ding, an dem die Schlüssel dran hängen, ist immer das selbe. Ich will ja nicht zwanghaft klingen, doch ich habe die Schlüssel sogar immer in der gleichen Hosentasche, vorne links. Ich brauche sie praktisch nie suchen. Dafür habe ich aber vergessen, wem ich vor circa drei Jahren meine Ratsche ausgeborgt habe.
Einmal bei einem Kneipenabend brachte mir ein Freund von einer fernen Reise einen echten Skorpion mit, weil das mein Sternzeichen ist. Ein großer, total schwarzer und total toter Skorpion, der in einer Flüssigkeit in einem Glas konserviert war. Später am Abend spielten wir Billard. Mein Geschenk zierte die Fensterbank daneben … und wurde dort von mir vergessen. Zu viel Alkohol macht vergesslich. Als ich am nächsten Tag nachfragte, wollte niemand meinen Skorpion gesehen haben. Ich hatte ihm noch nicht mal einen Namen gegeben.
Ein anderes Mal verlor ich einen Ring beim Baden im Fluss, er wurde mir von den Wasserströmen entrissen. Wobei das nicht so richtig zählt, weil es ja höhere Gewalt und nicht Schusseligkeit war. Jedenfalls scheine ich ein Talent zu besitzen, Dinge zu verlieren, die ich erst kürzlich bekommen habe; auch der Ring war mir am Tag zuvor geschenkt worden.

Andere Menschen sind ja sehr viel sorgloser und unbekümmerter mit dem Vergessen und Verlieren. Wenn sich zehn Leute auf einer Linie von ›Ich vergesse alles‹ bis ›Ich vergesse nie‹ aufstellen sollten, würde jeder vermutlich woanders stehen.
Ich kenne Spezialisten, die ständig irgendwas vergessen, meine Herren Söhne zum Beispiel: Hausaufgaben, schlechte Zensuren, einen Zettel für was-weiß-ich-denn, den die Eltern unterschreiben sollen, Opa Uwes Geburtstag, den Geschirrspüler auszuräumen, ihr eigenes schlechtes Gewissen … Wie praktisch eigentlich. Vergessen ist sicher eine gute Ausrede, solange man‘s nicht übertreibt. Denn dann gehen Vertrauen und Verlässlichkeit flöten, das schlägt auf die Reputation. Wenn Robert, obwohl ich schon fünfmal gefragt habe, andauernd ›vergisst‹ mir das Asterix-Heft zurück zu geben, werde ich ihm so schnell nicht den nächsten Band ausleihen. Und wenn das kleine bunte Mädchen mit den Froschstiefeln immer wieder ›vergisst‹, dass sie ihre Hausaufgaben vor dem Abendbrot erledigt haben soll, verliert der Papa das Vertrauen, dass es von alleine klappt, und muss kontrollieren.
Wieder andere Leute verlieren ihre Sachen gar nicht wirklich, sondern sie verlegen sie. Da landet die Sporttasche mal am Kleiderhaken, mal unterm Bett und mal im Keller, und am Ende findet Robert sie nicht wieder, obwohl sie noch da ist. In dem Fall hat er sozusagen vergessen, wo sie ist.
Am anderen Ende der Linie stehen manchmal auch Leute, die nie auch nur eine ganze Hausaufgabe oder einen halben Schlüssel verlieren, dafür aber, wenn sie wütend sind, vielleicht sich selbst vergessen. Wie der stämmige Junge aus dem Nachbaraufgang, der verlor erst die Fassung und dann die Kontrolle. Das ist meist für alle nicht schön, denn wenn jemand aus der Haut fährt, können Dinge geschehen, die man später bereut.

Lieder über das Vergessen – Teil 2

Sind vergessen und verlieren eigentlich gleich? Verlieren kann man ja auch allerhand, nicht nur Schlüssel und Handschuhe: die Hoffnung, das Gesicht, einen Menschen, der stirbt, ein Spiel … Zumindest sind sie sich ähnlich. Wobei das Verlieren im Sinne von ›liegenlassen‹ dem Vergessen am nächsten kommt. Man sagt ja auch: Ach, jetzt habe ich meine Handschuhe in der Bahn vergessen. Weil man eben nicht mehr daran gedacht hat. Man hat sie aus dem Gedächtnis verloren. Und das Gedächtnis hockt da drin, im Innern des Kopfes. Darum erinnern wir uns, wenn wir in unserem Gedächtnis etwas wiederfinden. Beim Vergessen hingegen ist der Speicherplatz in unserem Hirn entweder leer, neu besetzt oder so kaputt, dass wir nicht mehr ran kommen. Mein Bruder hatte einmal nach einem Fahrradsturz eine Gehirnerschütterung und dabei sein Gedächtnis verloren. Er konnte nicht mehr sagen, welches Datum oder welches Jahr gerade war. Das war vielleicht ein Schreck, zum Glück kam die Erinnerung bald wieder.
Ich glaube ja fast, dass es gar kein richtiges Vergessen ist, wenn ich mir bedeutungslose, unnötige Sachen nicht merke. Klar sagen wir: Die Formel für die Zinsrechnung? Die habe ich vergessen. Aber im Grunde habe ich sie mir einfach nicht gemerkt und das auch nie vorgehabt. Es ist doch auch kein echtes Verlieren, wenn Opa Hastig achtlos einen Kirschkern in den Ostseesand spuckt. Ich würde ihn natürlich nie und nimmer wiederfinden, wenn mich jemand danach fragt. Aber deshalb habe ich ihn ja nicht verloren, sondern bin einfach den Abfall los geworden. (Das gilt übrigens nicht für Plastikmüll, vergesst es!)
Nehmen wir es genau, kann doch Vergessen nur passieren, wenn wir uns etwas merken, uns an etwas erinnern wollen. Wenn etwas in unserem Kopf ist und dann verschwindet. Keiner steht gern ohne Ausweis am Flughafen oder mit leeren Händen vor der Oper, weil das Ticket in der anderen Hose ist. Das ist ärgerlich. Das tut weh.

Lieder über das Vergessen – Teil 3

Ach, es ist schon eine arge Sache mit dem Dings, dem Vergessen. Entscheidend ist – wie in den meisten Dingen –, wie wir darauf reagieren, wie wir mit dem Vergessen umgehen. Was ist unsere Strategie, welche Anti-Vergessens-Stress-Strategie haben wir?
Es dürfte wohl selten der Fall sein, dass es tödlich ausgeht, weil wir etwas vergessen haben. Die Wasserflasche in der Wüste vielleicht oder das Buch zum Pilze Bestimmen. Doch wer wenig vergisst, verbringt wenig Zeit mit suchen, Ersatz beschaffen oder umplanen. Andererseits können wir den lieben langen Tag auch damit verbringen an Sachen zu denken, die wir um Himmelswillen nicht vergessen wollen. Das ist der Vergessens-Stress! Leute, die wissen, dass sie andauernd etwas vergessen, die Angst vor dem Vergessen haben, haben ihn auch. Und solche, die Angst haben vergessen zu werden auch. Doch ich bin mir ziemlich sicher, dass wir alle viel sorgloser in den Tag ziehen könnten und sollten. Wer weiß, was uns begegnet, wenn wir improvisieren müssen. Mir persönlich würde wahrscheinlich ganz gut stehen, etwas gelassener mit dem Vergessen zu sein. Für den Anfang wenigstens mit vergesslichen Menschen um mich herum. Ich selbst werde aber auch gemocht, weil ich nicht vergesslich bin, weil ich immer ein Taschenmesser und eine Wasserflasche dabei habe, weil ich mir historische Daten merke, weil ich quasi unvergesslich bin.

Lieder über das Vergessen – Teil 4

Okay, das war stellenweise etwas übertrieben. Jeder vergisst ja ab und zu irgendwas, auch die Erwachsenen: die eigene Telefonnummer, ihre Pausenbrote, Kleingeld, Jahrestage, die Antwort auf eine E-Mail von der Hausverwaltung, unbezahlte Rechnungen, den Grund, warum man sich mal geärgert hat, die Tastenkombination, um am Wecker die Lautstärke einzustellen, Versprechen, die sie Kindern geben, Termine, Sonnencreme, Friedensverträge, die Pointe von einem Witz, Haare kämmen, die Klospülung, gesund zu leben, die Fahrkarte knipsen, unsere guten Manieren, die binomischen Formeln, den Namen, den meine Freundin der neuen Topfpflanze gegeben hat …
Meist haben sich die Erwachsenen dann doch das Nichtvergessen angewöhnt, verschiedene Anti-Vergessens-Stress-Strategien gleich mit. Ich zum Beispiel schreibe mir gern Sachen auf, Erinnerungen im Handy, die rechtzeitig aufploppen, Ideen und Einkaufslisten auf kleine, handliche Zettel, die man hinterher genüsslich zerknüllen kann. Raus aus dem Kopf, ist mein Motto. Das schafft mehr Platz im Hirn, sage ich mir, und mindert den Stress.

Lieder über das Vergessen – Teil 5

Vielleicht sollte ich trotzdem anfangen mein Erinnerungsvermögen zu trainieren, statt ihm die Arbeit abzunehmen. Schließlich werde ich auch mal alt. Das Vergessen im Alter ist anders. Mag sein, die Alten werden nicht alle automatisch zum wandelnden Schweizer Käse im Nachthemd. Ich kenne Greise, die sich an jeden Geburtstag in der Familie erinnern – und das bei 14 Enkeln und 27 Urenkeln. Doch manche alten Menschen werden älter als ihr Gedächtnis. Ihr Gehirn wird ein Schwamm, den jemand auswringt. Das nennt man dann senil oder dement. Weisheit und Narretei mögen im Alter nah beieinander liegen. Nur fürchte ich, dass diese Art des Vergessens kein närrisches, unbekümmertes ›Nicht-so-schlimm‹ ist. Dieses Vergessen macht kein Platz im Kopf für Neues aus dem reichen Füllhorn des Lebens. Im Gegenteil, es macht Menschen enger und weniger, es ist ein graues, tristes Verdämmern mit dem Geschmack von saurem Regen.
Ich kann mir nur schwer vorstellen, was es mit einer Persönlichkeit macht, wenn ihr plötzlich wichtige Erinnerungen fehlen, wenn das eigene, gelebte Leben sich leert und vergessen wird. Zuerst ist man abwesend, selbstvergessen, ständig auf der Suche, nach dem richtigen Wort, das doch gestern noch da war, nach dem Namen eines Liedes aus der Jugend. Das schlägt aufs Gemüt, der geringste Anlass führt zu schlechter Laune, man wird unnachsichtig mit anderen und mit sich selbst. Allmählich verliert man die Fähigkeit, sich in der Welt zu orientieren: Welcher Schlüssel war für den Platz mit den Mülltonnen? War das die richtige Haltestelle mit dem Bus zur Physiotherapie? Habe ich meine Tabletten schon genommen? Oder nehme ich sie doppelt, weil ich vergessen habe, dass ich sie schon genommen habe? Was war nochmal der Grund, warum ich einst mit meinem Liebsten glücklich war? Wo wohne ich eigentlich? Wer ist diese Frau, die behauptet meine Tochter zu sein? Und wo zum Teufel bin ich? Und wer? Was wollen diese Menschen in den Kitteln von mir? – Das Misstrauen gegen jeden und alles wächst. Manche werden traurig, andere schimpfen dauernd und werden grob. Das Vergessen ist erbarmungslos, nichts kommt zurück, es nimmt sich Zeit, es ist sadistisch. Manchmal, wenn es besonders fies sein will, behält es gerade die schlimmen Dinge, die man lieber vergessen möchte – böse Erinnerungen an Verletzungen und Schmerzen, den Krieg, einen schlimmen Unfall, eine schlechte Tat – bis zum Schluss zurück.
Darum sollten wir die vielen guten und schönen Erinnerungen, die wir haben, besonders hegen und sicher in unserem Herzen verwahren, oder? Die kleinen und großen Verliebtheiten, die kleinen und großen Wunder, den Sonnenaufgang am Meer, den Kuss auf die Stirn, die Freunde und die Reisen, den Geruch nach frischem Brot aus einer Backstube, den Moment, als wir vor Stolz weinten … Und vielleicht auch nicht den Tag, an dem wir etwas wichtiges vergaßen, was am Ende aber überhaupt nicht schlimm war.

Eigentlich sollte diese Geschichte anders enden, sich irgendwie ausschleichen. Aber der Schlussakkord liegt jetzt auf der Angst, letzten Endes doch ein vergesslicher, glatzköpfiger Opa Hastig zu werden. Kein schöner Gedanke. Bitte erinnert mich daran, das wieder zu vergessen. Im Vergessen kann auch Heilung liegen. Nur wer vergessen kann, kann auch vergeben, oder so. Oder war es umgekehrt?
Dem kleinen, bunten Mädchen wünsche ich zwar, dass sie lange unbekümmert bleiben kann, aber auch, dass sie erkennen lernt, welche Dinge man sich nicht unbedingt merken muss und wo es sich lohnt, nicht zu vergessen.
Und du, der sich meine Ratsche ausgeborgt hat: Gib sie zurück und wir vergessen die Sache!

Wort und Text: Mathias

Wo stehst du auf der Skala des Vergessens?
 

Eine Antwort auf „vergessen“

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